Bericht von Albert H. Vogel über die Anmusterung, Leben an Bord,
Untergang der S/S MALOJA und die mühselige Rückreise nach Lissabon
Albert Vogel (1927 – 2012), der spätere Direktor des Basler Rheinschiffahrtsamtes, erzählt in seinen Memoiren ausführlich über seine erste Anmusterung auf einem Seeschiff, der S/S MALOJA. Damals war der Flugverkehr noch in seinen Kinderschuhen und Albert reiste mit der Eisenbahn nach Genua. Von hier fuhr er an Bord der S/S GENEROSO nach Lissabon um auf seinem Schiff, der MALOJA anzumustern. Hier beschreibt er auch die Unterkünfte und das Leben an Bord in der Kriegszeit, den Untergang der MALOJA, aber vor allem auch die Odyssee, wie er und seine Kameraden über Nordafrika wieder zurück nach Lissabon kamen. Ueberfahrt nach Lissabon / S/S GENEROSO Am 10.07.1943 reiste ich mit der Eisenbahn von Zürich nach Genua. In Mailand war umsteigen und warten und ich erhielt zwei Begleiter in Zivil. Es waren offensichtlich italienische Gestapo-Leute, aber ich glaube sie waren eher zu meinem Schutz als um mich an unerwünschten Tätigkeiten zu hindern. Auf Anordnung der Reederei fuhr ich nämlich in Uniform und die sah wirklich zum Verwechseln nach RAF-Uniform aus. Ich durfte vor dem Hauptbahnhof eine Schokolade trinken, das traurigste Surrogat, das ich je getrunken hatte. Nachts spät kam ich in Genua an, wurde von einem Vertreter des Kriegs-Transportamtes abgeholt und auf S/S GENEROSO gebracht. Perfekter Service! Ich erhielt eine kleine Doppelkabine. Auf der unteren Koje plazierte ich den "Dienst"-Koffer, in der oberen schlief ich und machte am Morgen mein Bett nach Schulschiff-Manier. Für den Messboy war ich umgehend ein guter Passagier. S/S GENEROSO war ein typisches Schiff für die grosse Küstenfahrt (Nordkap bis Westafrika, inkl. Baltik und Mittelmeer), wie sie vor dem 1. Weltkrieg häufig gebaut wurden. 1896 in Norwegen für norwegische Rechnung erstellt, war die Migros, resp. die Maritime Suisse SA, der 10. Eigner, die meisten davon Griechen! Das Schiff war rund 70 m lang, 11 m breit und hatte eine Tragfähigkeit von 2150 tdw. Was mich, von der super-sauberen, ewig alles abstossenden, glattschmirgelnden und neu-anstreichenden Rheinschiffahrt kommend geradezu erschütterte, waren die unglaublich grossen Rostpocken und Rostnarben an Deck und in allen Winkeln. Auch als völligem Laien in der Seeschiffahrt war mir klar, dass dieses Schiff ein Seelenverkäufer war und in bedenklich schlechtem Zustand verkehrte. Nun, es war eben Krieg und die im Seetransport unvorbereitete Schweiz musste nehmen was noch auf dem Markt war. Ich wurde in der winzigen Offiziersmesse verpflegt und sah zu, dass ich jeweils mit dem Funker Schaaf essen konnte. Alle anderen sprachen russisch (oder war es ruthenisch?), französisch oder portugiesisch und da konnte ich nicht mithalten. Schaaf machte mich auch gleich mit einigen Eigenheiten der Seeschiffahrt bekannt, so z. B., dass auf GENEROSO das 2-Wachen-System gefahren würde, sobald und solange das Schiff losgemacht sei. Bei diesem System gäbe es die Wachen A und B. A von 00-04, 08-12 und 18-24 und B von 04-08 und 12-18, wodurch sich am 2. Tag ein automatischer Wechsel ergäbe. Auf Reisen von bis zu 10 Tagen sei es problemlos, aber danach ermüde man sehr schnell. Im Hafen (also das Schiff festgemacht) würde auf Tagesarbeit umgestellt, mit wenigen Ausnahmen für Deckaufsicht und Maschinenbetrieb. Der Vorteil des 2-Wachen-Systems läge ausschliesslich beim Reeder: er benötige fast 1/3 Besatzung weniger. Das Wachsystem der grossen Fahrt sei für die Besatzung viel günstiger. Da gäbe es drei Wachen, A von 00 bis 04 und 12 bis 16 Uhr, B von 04 bis 08 und 16 bis 20 Uhr sowie C von 08 bis 12 und 20 bis 24 Uhr. Die Wachen seien den Offizieren fest zugeteilt, wobei meist der 2. Off. die Wache A, der Erste die Wache B und der Dritte die Wache C erhielte. Der Kapitän laufe normalerweise keine feste Wache. In beiden Systemen seien dem Bootsmann (je nach Schiffsgrösse) ein bis zwei Leichtmatrosen im Tagdienst zugeteilt, die er für Arbeiten einsetze, die besser zügig von ein- und demselben Mann durchgezogen würden, als alle zwei Stunden von einem anderen. Von den Deckswachen mit je zwei Mann stehe nämlich jeweils ein Mann während zwei Stunden am Ruder, der andere mache Decksarbeit, dann wechselten sie ab. Nachts wäre anstelle von Decksarbeit Segeltuchnähen in der Off-Messe angesagt. Genäht würden v. a. breite Schläuche aus grobem Segeltuch für die Asche-Shoots. Nachts würde der Rudergänger um die Stunde abgelöst. Je nach Wetterlage, Fahrgebiet und / oder Verkehr müsse der Nicht-Rudergänger Ausguck machen und in diesem Falle alle andere Arbeit liegen lassen. Ich wurde dem Kapitän vorgestellt, der mir den Eindruck eines vornehmen Herrn machte, klein, weisshaarig und dem ich, das merkte man, völlig schnuppe war. Ob ich schon gefahren hätte? Jawohl! Wo? Auf dem Rhein! Er winkte ab, keine Seeleute, die Schiffe seien Yachten, er kenne das von Antwerpen. Ich dachte mir, sehr wohl, Herr Kapitän, aber ihr Schiff könnte etwas mehr Yacht gebrauchen. Bei der Löschung fiel mir auf, dass sich die Schauerleute ausserordentlich viel Zeit liessen. Die Hafenarbeiter in Basel wären den Genuesern nur so um die Ohren geflitzt! Genua blieb denn ja auch bis lange nach dem Krieg berüchtigt für seine ewigen Streiks und die lahmarschige Arbeit. Nachts heulten die Sirenen. Aufgeregte Luftschutzwarte trieben uns in den Keller, eigentlich ein Tunnel in einem Hügel direkt am Hafen. Ein wirklich gut geschützter, grosser Luftschutzkeller. Frauen und Kinder heulten, Männer redeten aufgeregt durcheinander. Wenn ich an den Luftschutzkeller in Mannheim dachte: die Leute ruhig, gefasst, vielleicht auch mit Angst, aber man merkte sie nicht. Und dann dieses Tohuwabohu! Dabei konnten die Bomber der RAF bei der langen Flugstrecke gerade einmal die Hälfte der Bombenlast für das Ruhrgebiet mitnehmen! Ich fand das Ganze etwas würdelos und meinte zu Schaaf: "Die Flak schiesst noch nicht einmal, der Angriff könnte ganz wo anders hingehen; was schreien denn die so herum?" Er wusste es auch nicht; es komme ja auch recht selten vor, aber wenn, dann sei jedesmal dasselbe Theater. Am 12.07.1943 liefen wir aus. Die Ueberfahrt war einmalig schön, wie es eben im Mittelmeer sein kann und im Atlantik lediglich etwas Dünung. In Gibraltar wurde ich kurz verhört (wie jeder bei der ersten Passage), Schaaf übersetzte. Ich käme von der Rheinschiffahrt, wie es denn so sei in Deutschland? Ich sagte, gut organisiert, man hat zu essen, aber die Brunnen sind trocken. Wie das, bitte? Eben so, kein Wasser läuft. Das haben sie notiert und das war's dann auch schon. Nichts von diesem kindischen, über 1 Stunde dauernden Verhör beim ersten USA-Besuch und den jede Reise folgenden ca. 20 Minuten durch die deutschen Juden bei der FBI. Den Unterschied zwischen Geburtsort und Heimatort haben sie aber trotzdem bis 1945 nicht kapiert. Glücklicherweise waren bei mir beide identisch! Interessanterweise gaben die englischen Kontrolleure in Gibraltar erst nach Kriegsende zu erkennen, dass sie Hochdeutsch und sogar mehr konnten: sie hatten nämlich in St. Gallen auf dem Rosenberg studiert! Jetzt war auch klar, warum sie immer in der Nähe standen, wenn wir während der Kontrollen in Gruppen gleicher Sprache an Deck bleiben mussten! Kurz vor Gibraltar ein Intermezzo: der Kapitän befahl mich auf die Brücke. Schaaf war schon da. Ob ich soeben an Deck gepfiffen hätte? Jawohl! Warum? Ja, warum (Fragen haben diese Russen), es ist schönes Wetter, ich habe Freude! Schön, behalten Sie Ihre Freude, aber pfeifen Sie nie wieder an Deck, das ruft dem Sturmwind. Selbstverständlich, zu Befehl. Schaaf grinste verstohlen und sagte mir später, dass diese Russen fürchterlich abergläubisch wären. So langsam wunderte ich mich über diese Seeschiffahrt, die ich, Mitte des 20. Jahrhunderts, als abgeklärte, in Wissenschaft gegründete Transportmethode angesehen hatte! In Lissabon kam ein Agent mit der Order, ich müsse auf S/S MALOJA. Hurra, die lag gleich gegenüber an der Innenseite der Mole. Meine Fahrt ab Genua werde als Dienstzeit auf MALOJA geschrieben. So lasse ich mir das Gefallen. S/S MALOJA MALOJA war 10 Jahre jünger als GENEROSO und unvergleichlich besser unterhalten. Bei Austin in Sunderland 1906 für englische Rechnung gebaut, war sie nicht nur etwas grösser als GENEROSO, sondern auch einiges schneller. Länge ca. 82 m, Breite 11,5 m, Tragfähigkeit 2650 DWT und sollte (theoretisch) 11,5 kn laufen. Jedenfalls machte sie über 10 kn und das war im 2. Weltkrieg (auch für neuere Schiffe) noch sehr gut. Die Schweizerische Reederei AG war lediglich der 5. Eigner. Die drei vorhergehenden waren Griechen. Anscheinend gab es auch unter den Griechen bessere und schlechtere Reeder. Ich fürchte, dass selbst diese zaghafte Formulierung unter alten Seeleuten Protest hervorruft: Es gab und gibt nur schlechte griechische Reeder; sie sind alle nur mehr oder weniger schlecht! Ich wurde in den Salon gewiesen und da standen sie: mein Kapitän und sein Stellvertreter, mein 1. Offizier. Beide trugen weisse Offiziersmützen mit einer dezenten Goldkordel anstatt einem Sturmriemen, aber der Kapitän war klar erkennbar am Kommandanten-Rührei auf dem Mützenschild. Ich meldete mit "Leichtmatrose", den Off. Asp. liess ich weg. Der Kapitän, "Master next God of the good ship MALOJA...", wie es in den alten Konnossementen so schön hiess, meinte, ich solle "normal" stehen und reden, wir seien hier nicht in der Kriegsmarine. Dann stellte er sich vor als "Wouter Adriaan Jan van Baardwijk und das ist mein 1. Offizier Simon Hofmann". Obwohl mit der niederländischen Szene wenig vertraut, war mir klar, dass er aus gutem Bürgerhaus stammen musste. Schliesslich hatte er drei Vornamen, die Gebühren kosteten, während sein 1. Offizier mit nur einem Vornamen vermutlich eher aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Sie duzten mich in der damaligen niederländischen Usanz allen Untergebenen gegenüber, unabhängig vom Alter. Dann wollte der 1. meinen Pass sehen. "Lass mal", meinte der Kapitän auf holländisch und fragte mich auf deutsch: "Hast Du einen Trainingsanzug?" Ich antwortete auf holländisch: "Aber sicher, mein Herr!" Da lachten beide und Baardwijk sagte: "Er ist ein Schweizer!" Ich musste ziemlich blöd geguckt haben, denn er erläuterte dann, dass der Trainingsanzug wohl eine Art schweizerische Tracht sei, keine andere Nationalität sei ausserhalb eines Sportplatzes je damit gesichtet worden, aber jeder Schweizer hätte stets einen dabei. Dann wollte er auf holländisch wissen, wo und bei wem ich schon gefahren hätte. "Ja, da wärst Du wohl besser geblieben; zur Binnenschiffahrt mögt ihr Schweizer noch knapp taugen, aber hier auf See? Für Euch wäre es besser, man würde die Alpen auf der Höhe von Basel abrasieren und in's Mittelmeer schmeissen, dann könntet ihr da Kanalschiffahrt betreiben. Bleibt beim Bergsteigen und Skilaufen und lasst uns Holländer fahren!" Oyez, Oyez, Admiral Tromp, 17. Jhdt.: "Wij zijn de Voerlieden Europas!" Diesem Vorsatz haben die Niederländer fast 400 Jahre nachgeeifert und waren seiner Erfüllung noch nie so nahe als heute, zu Ende des 20. Jahrhundert! Allerdings nicht mehr in der Seeschiffahrt, die ist auch bei den Holländern ausgeflaggt, aber auf der Strasse und auf den Binnen-Wasserstrassen. Der Bootsmann hiess Mortensen, war ein Däne und sah aus, wie man sich eben einen skandinavischen Seemann vorstellt. Die Deckmannschaft war wegen der langen Revisionszeit (Klasse), mit Ausnahme von zwei O.S., abgemustert worden. Während der Zeit in Lissabon wohnten diese zwei aber auch an Land und kamen nur zur Tagesarbeit an Bord. Der Bootsmann hielt mich so oft als möglich getrennt von ihnen. Irgendwie fiel mir das auf, aber ich fand keine Erklärung dafür und es war mir auch recht. Eine Arbeit, die man gar nicht anders als allein ausführen konnte, war das schmieren der Wanten und Stage. Der Bootsmann hievte mich im Bosunchair hoch und ich fierte mich selber ab, so wie die Arbeit voran ging. Das Schmiermittel war eine grausliche Mischung aus Braunteer, schwarzer Farbe und einigen Geheim-Zutaten. Man musste sie mit einem Wust Putzfäden in das stehende Gut einreiben; sie sollte die Drahtseele trocken halten und das Drahtseil aussen schwarz glänzend machen. Man bekam davon vom Handgelenk an braune Hände, die man mehrere Tage lang nicht mehr normalfarbig kriegte. Ich fluchte über das Zeug, aber er meinte: "Lass nur, Leute mit diesen Händen sind lange auf See gewesen, denn das stehende Gut wird nicht oft geschmiert. Die Weiber stehen auf solche Hände, sie zeigen an, dass ein Kerl lange draussen war! "Seemannsträume". Da ich nicht als Schiffsjunge, sondern als O.S. / Off.-Asp. angeheuert hatte, musste ich nur abwechslungsweise mit den anderen beiden O.S. das Essen für uns holen, abwaschen und die kleine Messe sauber halten. Auf MALOJA wohnte die Besatzung achtern. Ein Niedergang führte in einen Vorraum und dieser (an Steuer- und Backbord) zu je einer Toilette, einem Waschraum, einem Schlafraum für 8 Mann (je zwei Kojen übereinander, U-förmig) und einer winzigen Messe, wo (allerdings sehr eng) 8 Mann essen konnten, was aber wegen der Arbeitseinteilung ohnehin nur selten vorkam. Die Decksleute waren an Steuerbord, die Heizer und Trimmer an Backbord. Der Bodenbelag war Zement, dunkelrot gestrichen, die Wände und Decken unverkleidet, mit Korkstückchen bespritzt und weiss gestrichen, die Wände z. T. auch lindgrün. Der Bootsmann wusste natürlich, dass ich eigentlich als Off.-Asp. an Bord war (der O.S. war ein Heuer-Trick, denn die Asp.-Heuer war etwa ein Drittel höher), dass sich aber weder der Alte noch der Erste auch nur im geringsten um meine Ausbildung kümmerten. Der 2.Off. war, wie die meiste übrige Mannschaft, abgemustert worden. Am Anfang nahm mich der Bootsmann jeden Abend, kurz vor Arbeitsschluss, an irgend einen Ort auf dem Schiff mit und erklärte mir im Detail die Funktion der Geräte und die Aufgaben der Besatzung. So z. B. im Vorschiff Ankerspill, Ankergeschirr, Kettenkästen und Ankerbefehle. Die MALOJA wurde auf See im 2-Wach-System gefahren. Ich müsse noch ein festes Messer kaufen, mit Scheide, das sei Ausrüstungsvorschrift. Nichts lieber, ich habe es übrigens heute noch. Wenn man an's Ruder musste, wurde das Messer, um den Magnetkompass nicht zu beeinflussen, ausserhalb des Ruderhauses in einer Halterung auf der Brücke deponiert. Zu den beiden Schweizern an Bord hatte ich keinen persönlichen Kontakt, sie waren ja auch über 10 Jahre älter. Häggi, der Koch, unterhielt sich gelegentlich mit mir, wenn ich das Essen holte. Emil Städeli, der Funker, war ein Eigenbrödler und ging selten an Land. Er nahm mir zwar freundlich den Gruss ab, aber damit hatte es sich dann schon. Die Schweizer von den Schiffen und die von der Kriegstransport-Organisation trafen sich jeweils in der festen Stammbeiz (Café Suico) am Rossio-Platz. Es ging meist lustig und hoch her. Am 1. August waren alle Schweizer zum Gala-Diner im "Avenida-Palace" eingeladen, damals das erste Haus am Platze. Ein derart grandioses Diner hatte ich noch nie gesehen. Vom 25. August an trudelte die Besatzung ein. Da nur eine Reise von rund 3 Wochen während des Monats September nach Genua und zurück geplant war, hatte jeder lediglich etwas Wäsche und 2 Ueberkleider bei sich. Innerer Dienst (u. a. auch eigene Wäsche waschen) war ohnehin jeden Samstag und in Genua durfte man nicht an Land. Oelzeug und Gummistiefel waren im Bugraum untergebracht. Meine Anwesenheit passte ihnen gar nicht, das merkte man gleich. Ich dachte, sie fühlten sich gestört, weil plötzlich ein Fremder da war. Das war natürlich dumm von mir, denn eine solche Durchmischung findet schliesslich auf allen Schiffen der Welt laufend statt und auch die Portugiesen wissen das sehr genau. Wir luden Kopra in Säcken und Kopraöl in Drums. Die Drums auch als aufrecht gestaute Decklast. Am 01.09.1943 liefen wir aus. Noch auf dem Tejo machten wir seeklar, schwangen die Rettungsboote aus und zurrten sie gegen gepolsterten Balken, die an den Davits auflagen. Ein gefetteter Splint konnte mit einem Fäustel ausgetrieben werden und dann schwang das Boot frei unter die Davitblöcke. Vorne, querab vom Vormast, wurde eine Fangleine (Painter) festgemacht. An den Wanten des Achtermasts waren zwei Flosse befestigt, die bei Untergang des Schiffes selbständig aufschwammen, die man aber auch bewusst zu Wasser lassen konnte, indem man mit einem daselbst befestigten Beil die Haltetaue kappte. "Extract voyage Lisboa-Genoa to accident", dated Ajaccio, 23rd septembre 1943 (dieser Extract des voyage report ist vermutlich von einer französisch-sprachigen, des englischen nicht geläufigen Person getippt worden, wahrscheinlich im Büro des schweizerischen Honorar-Konsuls. Der Extract enthält Fehler und Englisch-Fehler, die einem holländischen Kapitän kaum unterstellt werden können, die aber später, v. a. von den Autoren des Buches "Schweizer Schiffe auf allen Weltmeeren" nicht als solche realisiert worden sind. Im folgenden Excerpt habe ich nur die offensichtlichsten sprachlichen Fehler, aber längst nicht alle, korrigiert. Die "Deux signatures illisibles" sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diejenigen von Kapitän van Baardwijk [verwunderlich, da Baardwijk, wie die meisten Holländer, eine höchst lisible Unterschrift hatte] und diejenige des belgischen Chief-Steward Julien Schools, der zu jener Zeit als Uebersetzer mit dem Captain in Ajaccio war): "1 Sept. Sailing 1630 with a cargo of copra-oil in drums and copra in bags; also copra-oil in drums on deck, about 2020 t cargo; Pilot from board 1740 at Cascais and proceed, under Captains's advice, to sea. 2 Sept. High NW swell, rolling and pitching ship; good weather, N wind. Pass at 0735 off St. Vincent. 3 Sept. Good weather; arrived 0730 Pilot station at Gibraltar, where Pilot boarded; 08 h at anchor, 1030 Control on board, 1530 papers ready and at 16 h. proceed to sea under Captain's advice; 1630 pass Europe Point, Log out. 4 Sept. Good weather; light NE breeze and sea. Pass 1125 C. da Gata. 5 Sept. Good weather; light sea and breeze. Pass 0315 C. Nao. 6 Sept. Good weather; light sea and wind. Pass 1210 C. Sebastian and change course to 42ø20'N 08ø00'E following instruction english control. 7 Sept. Good weather, calm sea, visibility good. Position at 1230: 42ø20'N 08ø00'E, change course to 12' N of Genoa following instruction Comdt. Marina Genoa, telegram received saying that on Sept. 8th at 0730 Italian time, pilotboat will be waiting for us to bring the ship in port." Zitat aus einem Rapport, den ich am 08.11.1945 auf Veranlassung der Gesandtschaft in Lissabon verfasste, den ich aber jetzt in Bezug auf Grammatik und Tippfehler etwas korrigiert habe. (Ich konnte damals noch nicht Maschineschreiben und war etwas grosszügig in der Akzeptanz, wie mein handschriftlicher Bericht von einer des Deutschen wenig mächtigen portugiesischen Bürokraft abgetippt worden war. Einer Akzeptanz, die damals, vor allem in Handelsmarinekreisen, allerdings nicht unüblich war. Dasselbe dürfte auch auf Capt. Baardwijk im obenerwähnten Extract zutreffen). "Am Morgen des 2. September, auf Höhe von Kap Sao Vicente umkreisten uns drei deutsche viermotorige Flugzeuge. Ich habe später Photographien deutscher Flugzeuge gesehen und glaube, dass es sich um den Typ Focke-Wulf 200 handelte. Dies ist insofern wichtig, als dass nach der Tropedierung die portugiesischen Besatzungsmitglieder einstimmig behaupteten, die Flugzeuge, die uns versenkten, wären Maschinen desselben Typs gewesen, die uns bei Sao Vicente umkreist hätten. Ich möchte gleich jetzt darauf hinweisen, dass diese Aussagen (die meines Wissens von denselben Leuten auch der französischen Polizei in Algier gegenüber gemacht wurden) mit der grössten Vorsicht aufzunehmen sind. Keines der Besatzungsmitglieder hatte eine Ahnung von Flugzeugerkennungsdienst. Jedoch bin ich mir über den Typ der Maschinen bei Sao Vicente, zwar mit Vorbehalt, doch ziemlich sicher, hauptsächlich, weil man die schwarzen Kreuze gut sehen konnte. Das Erkennen der Hoheitsabzeichen der Maschinen die uns versenkten war dagegen unmöglich." Ich bin am Nachmittag des 7. Sept. mit den beiden portugiesischen Matrosen Eduardo da Paz und J. J. Lino auf dem Vorkasteel beschäftigt. Die beiden schmieren die Springdrähte, die morgen in Genau gebraucht werden und ich mache die Verschanzung oben schwarz. Es ist kurz nach 8 Glas am Nachmittag (1600 Uhr), beide Offiziere sind von der Wachablösung her noch auf der Brücke und der Kapitän hat sich zu ihnen gesellt. Der Kapitän ruft etwas und zeigt nach Steuerbord. Dort sind etwa fünf Strich voraus die Bergkuppen von Korsika zu erkennen. Das Meer ist absolut ruhig, kein Wind, die Sicht sehr gut. Wir sehen zehn Flugzeuge, die nach Süden streben, plötzlich den Kurs ändern und auf uns zufliegen. Sie bilden drei Dreierformationen, die nebeneinander fliegen, ganz links ist eine einzelne Maschine. Die Dreierformationen ziehen sich nach S auseinander. Wir starren verwundert auf diese Flugschau. Die Maschine ganz links wird bald ber uns sein und dann wird man die Hoheitsabzeichen erkennen können. Da erscheinen plötzlich achterlicher dann dwars weisse Pilze im Wasser, die in das Schiff hinein wandern. Wir drei realisieren wohl alle gleichzeitig was da geschieht und werfen uns auf's Deck. Ich drücke mich ganz an die Verschanzung, obwohl diese bei einem Angriff von hinten keinen Schutz bietet. Die beiden Matrosen liegen einer an jeder Seite des Ankerspills. Jetzt hört man das Hämmern der Bordwaffen und das Auftreffen der Geschosse im Schiff. Es knallt, wie wenn auch Explosivgeschosse benutzt würden. Die Maschine, die ganz links war, donnert knapp ber Masthöhe quer über uns weg. Es herrscht ein Höllenlärm, als eine zweite, dritte und vierte Maschine von Steuerbord fächerförmig nach rückwärts gestaffelt angreift. Plötzlich Feuerpause! Dann ein dumpfes Whumm, ich werde körperlich angehoben und falle wieder auf Deck zurück. Ein Schlag an meiner linken Schulter schmerzt heiss. Dann setzt von achtern erneut das Getöse der Abschüsse und Einschläge ein und wieder fliegen eine oder zwei Maschinen über uns hinweg, aber diesmal stets mehr von Backbord. Dann Ruhe, die Maschinen scheinen nach Westen, in die Sonne, wegzufliegen. Ich erhebe mich etwas mühsam. Da Paz ist nicht mehr zu sehen. Das Vorkasteel ist mit Dellen und Splittern übersäht. Das Ankerspill muss mich doch geschützt haben. Der Vormast und die Brücke sind nicht mehr zu sehen! Eine dicke, schwarze Rauchwolke verdeckt alles. Auch Lino, der an Backbord des Ankerspills gelegen hat, starrt die Rauchwand an. Sind wir etwa allein mit der Bugpartie im Mittelmeer unterwegs? Blödsinn, ein Bug allein kann nicht schwimmen. Lino dreht sich zu mir um und sagt auf portugiesisch: "Ins Meer, über Bord!" Ich rufe: "Nein, warte!" aber er läuft zur Reling, steigt darüber und springt. Er wurde nie mehr gesehen. Ich drehe mich um, warum weiss ich nicht, denn von vorne kommt bestimmt keine Hilfe. Als ich einen schnellen Blick auf und über die Verschanzung werfe, sehe ich diese mehrfach durchlöchert und davor im Wasser eine Blasenspur, die schnurgerade vor unserem Bug durchgeht. Jetzt ist klar, eine Garbe ging knappüber mir durch und wir wurden torpediert. Es wurden zwei Torpedos lanziert, wovon das eine vor dem Ziel durchlief und das andere in Raum eins oder zwei explodierte. Konnte ein zweimotoriges Flugzeug zwei Torpedos tragen oder hat etwa auch die zweite Maschine von links noch ein Torpedo abgeworfen oder war es nur ein Torpedo und das, was uns traf eine Bombe? Ich weiss es nicht, es ist in diesem Moment auch ziemlich nebensächlich, ich muss handeln. Torpedotreffer an Steuerbord, also an Backbord nach achtern laufen! Es ist schwierig, weil die Fässer voll verspritztem Kopraöl sind und man etwa querab vom Vormast vor lauter Rauch kaum die Füsse sehen kann. Die Rauchwand ist schnell durchstossen und dann sehe ich die Mittschiff-Aufbaute mit der Brücke. Ueberall Löcher, zersplittertes Holz, Fensterglas, der Kamin durchlöchert wie eine Bircherraffel. Das Schiff hat schon leicht Schlagseite nach Steuerbord. Im Mittelschiff, an Backbord, sehe ich den Chief-Mate in seiner Kabine verschwinden. Ich laufe zur achteren Seite der Mittschiffs-Aufbauten. An Steuerbord treibt das Rettungsboot vollbesetzt nach achtern. Der Kapitän steht an der Pinne und winkt mir. Im Boot scheint der Teufel los zu sein, es wird geschrien und, so mein Eindruck, laut gebetet. Da ist mir klar, dass ich eventuell lange schwimmen muss, bevor mich diese Schreihälse an Bord nehmen. Also laufe ich weiter, nach achtern. Unten an der Niedergang-Treppe liegt ein nackter Mann mit einem Handtuch. Er hat, deutlich erkennbar, einen Einschuss im Körper. Ich springe über ihn weg und sehe, dass es der Matrose Francisco Duarte ist. Gleichzeitig sehe ich einen Trimmer aus dem Heizerlogis kommen. Ich laufe zu meiner Koje, reisse die Schwimmweste an mich und greife meine Brieftasche unter dem Kissen. Diese stopfe ich hinter den Hosenbund und ziehe im Laufen meine Schwimmweste an. Wieder an Deck bemerke ich, dass am Backbord-Rettungsboot der 1. Maschinist, der Chief-Mate und der Trimmer von vorhin tätig sind. Als ich dazu stosse, haben sie die Verzurrung schon losgeschlagen, können aber das Boot nicht zu Wasser lassen. Der Chief-Eng. zeigt auf den vorderen Block. Der ist durch Beschuss beschädigt und das Falltau kann nicht durchlaufen. Ich ziehe mein Messer, setzte erst die Säge an und dann die Schneide. Das Boot saust plötzlich Bug-Voran unter Wasser, schrabbt aber auf der Bordwand, weil das Schiff schon viel Schlagseite hat. Die Fangleine ist durchgeschossen und baumelt herum. Den achteren Fall hatten sie schon gelöst und der rauscht jetzt durch seine beiden Blöcke. Der Trimmer kann das Falltau blitzschnell an der Davitklampe abstoppen und belegen. Das Boot schwoit, weil der vordere Fall ausgerauscht ist. Der Trimmer springt weit ins Leere und hängt sich an den Fall, dann der Chief-Eng., dann der Chief-Mate, dann ich. Wir rutschen alle am achteren Fall ins Boot. MALOJA hat immer noch Fahrt, weil, wie mir der Chief-Eng. später erzählt, die Regelvorrichtung wegen Beschussschäden und Verschiebungen durch die Explosion nicht mehr bewegt werden konnte. Der Fall war am Davit oben belegt, wie den Haken aushängen? Wir probieren zu dritt, das Boot gegen die Strömung am Fall vorzuziehen, aber es geht nicht. Die Zeit drängt, MALOJA trimmt auf den Bug und krängt immer mehr nach Steuerbord, die Schraube kommt schon aus dem Wasser und das bei geladenem Schiff! Der Trimmer musste schon an Deck gefahren haben, Bootsmanöver scheinen ihm nichts Neues. Vermutlich war er, wie praktisch alle portugiesischen Handelsmariner, schon zu den Neufundland-Banks gefahren und war mit Dories vertraut. Jedenfalls hat er, während wir anderen drei uns vergeblich mühten, das Painterbeil geholt und das Falltau am Block entzwei geschlagen. Das Rettungsboot treibt praktisch unter Wasser dem Schiff entlang nach achtern. Und so naht das nächste Unheil: die gut zur Hälfte über Wasser ragende und noch stets drehende Schraube wird unweigerlich das Boot erfassen! Der Chief-Eng. befiehlt laut: "Over-board!" Wir springen, nur der Chief-Mate nicht, er kann nicht schwimmen! Ich frage ihn später, warum er ohne Schwimmweste aus der Kabine gekommen sei und er meinte, er hätte seine Uniformjacke angezogen, sein Gold eingesteckt und dabei die Schwimmweste vergessen. (Wer, ausser den Schweizern und Portugiesen, damals unter Schweizerflagge zur See fuhr, legte sein Geld in Gold an, das in Portugal in Ketten zu 22 Karat erhältlich war [für die Fischerfrauen, die Analphabeten waren und der Bank nicht trauten]; man hatte schliesslich keine Ahnung, was mit den verschiedenen Währungen nach dem Krieg passieren würde! Da schien Gold das sicherste!). Hofmann bleibt also etwas zu lange im Boot, die Schraube erfasst es und schneidet es durch. Hofmann wird ins Wasser geschleudert, aber nicht bevor ihm noch ein ca. 30 cm langer Holzsplitter in eine Wade gesteckt wird. Wir drei schwimmen so schnell wir können vom Schiff weg, Bootsteile fliegen herum, Kopf unter Wasser! Der Rest des Rettungsbootes ist zurück ins Wasser gefallen und hat sich wieder zwischen zwei Propellerflügel geschoben, wird ein zweites Mal angehoben und Teile davon abgeschnitten. Mit den ersten Teilen treiben wir im Wasser und halten uns daran, als "Help!" gerufen wird. Es ist der Erste Deckoffizier, der Chief-Eng. guckt uns durch die Trümmer an, schüttelt den Kopf und sagt: "Too dangerous!" Ich überlege, ob ich es tatsächlich fertig bringe, den Kerl einfach ersaufen zu lassen und denke gleichzeitig an meine Karriere, die zweifellos einen positiven Schub erhielte, wenn es mir gelänge, den Ersten zu retten und zwar entgegen höherem Befehl oder doch mindestens entgegen der klaren Aeusserung eines erfahrenen Seemanns. Das Argument Karriere zwingt zum Handeln. Ich schwimme auf ihn zu, die MALOJA krängt immer mehr und die Schraube ist jetzt schon ganz aus dem Wasser. Er klammert sich an mich, aber das habe ich ja auf dem Schulschiff gelernt: von hinten packen, wenn nötig erneut untertauchen. Es ist nötig, er prustet, wird manierlicher und fragt ängstlich-verwundert: "Ken iij swemme?". Trotz der reichlich kritischen Situation muss ich lachen und beruhige ihn. Ich schwimme auf dem Rücken zu den Resten des Bootes und ziehe ihn mit meinen Händen unter seinen Achseln hinter mir her. Die elegante Art im Schwimmunterricht, die Hände gefaltet unter seinem Kinn, geht nicht: er wehrt sich, spuckt und glaubt zu ersticken. In diesem Moment hebt die MALOJA das Heck an, legt sich ganz auf Steuerbord und rauscht senkrecht in die Tiefe ab. Am Schluss verschwindet die Schweizerflagge. Dann rumst es, eine Druckwelle sprudelt Wasser und Blasen, das Steuerhausdach mit seiner Holzreeling und der Peilantenne taucht auf und schaukelt weiss auf der ruhigen See. In kurzer Zeit schwimmen wir in einer dicken, grünen Oellache, die scheusslich intensiv nach Kopraöl stinkt. Die beiden anderen helfen mir, Hofmann mit den Armen auf einen losen Luftkanister zu legen. Das Rettungsboot fährt langsam hin und her, gelegentlich bückt sich jemand aussenbords und liest etwas auf. Dann bringen sie uns ein Floss, alles unter dauerndem lauten Lamentieren und Beten. Einige Leute aus dem Boot steigen auf das Floss um und helfen uns von oben, Hofmann auf das Floss zu hieven. Wir klettern ebenfalls an Bord. Das ist ohne gegenseitige Hilfe nicht möglich, ein Punkt, den die Survival-Fachleute noch studieren sollten! Jetzt spüre ich plötzlich an verschiedenen Orten Schmerzen und sehe nach. Der linke, innere Fussknöchel blutet und ist geschwollen. Hinter dem linken Knie steckt ein Splitter, den ich herausziehe, weil er sonst beim Sitzen weiter hineingedrückt würde. Die linke Schulter ist geschwollen und blutet. So ziemlich berall sind Abschürfungen, die zum Teil bluten und brennen, aber das ist mir recht, Salzwasser desinfiziert! Das Boot hat auch das zweite Floss geholt, wir machen mit einer Wurfleine fest und Leute aus dem Boot steigen auch auf dieses Floss um. Jetzt sind nur noch der Kapitän, der 2. Maschinist, der Bootsmann, ein Matrose und (liegend) Koch Häggi auf dem Boot. Häggi hat eine wahrscheinlich schwere Verletzung am Bein und blutet am Arm. Der 2. Maschinist (Jens Hansen, ein Däne) und der Bootsmann arbeiten fieberhaft, schlagen Lattenverschläge vor den Luftkanistern weg, reissen diese heraus und werfen sie über Bord. Dann verlangen sie Kleidungsstücke, zerschneiden diese, stopfen die Streifen in die Schusslöcher der Klinkerbeplankung und nageln Teile der Holzlatten darüber. Ein Beutel mit Werkzeug gehört zur Bootsausrüstung. Der Matrose findet ein Geschoss und zeigt es dem 2. Maschinisten. Dieser befiehlt ihm, das Ding augenblicklich über Bord zu werfen (später gibt er zu Protokoll, dass das Geschoss ein Kaliber zwischen 17 und 20 mm hatte und er Angst gehabt habe, es könne explodieren). Schliesslich schmeissen sie den Mast überbord, trennen das Lateinsegel von seiner Stenge und werfen auch diese zusammen mit dem Steuerriemen über Bord. Sechs Riemen bleiben an Bord. Die Platzverhältnisse an Bord eines Rettungsbootes sind prekär. Wenn ein Boot mit 28 Personen angeschrieben ist, bedeutet das lediglich, dass das Boot 28 Personen mit ausreichendem Freibord tragen kann, aber diese 28 Personen sitzen eng gedrängt auf den Duchten und den Gangborden, sodass rudern oder sonst eine Tätigkeit unmöglich ist. Da wir nur noch 20 Mann sind, wäre eine vernünftige Sitzverteilung möglich, aber zwei müssen liegen. Unser Floss wird zum Rettungsboot geholt, es liegt laufend tiefer im Wasser. Wir befördern Hofmann auf ein Gangbord, Häggi liegt gegenüber auf dem andern. In diesem Moment säuft unser Floss ab, weil die Schwimmkörper (Oildrums) durchschossen sind. Die Survival-Erkenntnisse waren schon 1941 soweit gediehen, dass man die Schwimmkörper mit Kork-Stückchen füllte, um trotz Einschüssen Auftrieb zu bewahren. Aber bei uns hatte man anscheinend geschlafen. Ich liege erneut im Wasser, lege mir eine neue Schicht Kopraöl auf und klettere mit Hilfe des Chief-Eng. auf das andere Floss. Jetzt wird das Boot mit Leuten von diesem Floss besetzt und zwar so, dass Hofmann und Häggi auf den Gangborden ausgespart werden. Die Duchten beim Mast werden mit Ruderern besetzt: je zwei Mann ziehen an Riemen 3 und 4, während je ein dritter von der hinteren Ducht aus stösst. Die Riemen 1 und 2 werden von je zwei Mann gezogen. Auch wir steigen um, das Floss wird los gemacht. Es ist jetzt etwas nach 17 Uhr. Der Kapitän steht auf und versucht sich in einer Mischung von Lagebericht, -analyse und SOMA: Wir sind ca. 1615 von Flugzeugen torpediert und beschossen worden. Hat jemand gesehen welche Flugzeuge es waren? (Kopfschütteln) Also unbekannt. Drei Mann fehlen, hat sie jemand gesehen? Ich gebe meine Wahrnehmungen zum Besten. Mehrere haben Duarte am Fuss des Niedergangs gesehen. Der Kapitän fasst zusammen: wir haben drei Tote, zwei Schwerverletzte und drei Verwundete. Da drüben liegt Korsika. (Die Bergspitzen kann man vom Boot aus gerade noch sehen). Wir werden dahin rudern, die Kompasspeilung habe ich (der Bootskompass ist schon aufgestellt). Wir können nur hoffen, dass kein Wind aufkommt, die Lecksicherungen würden dem Druck nicht stand halten, segeln kommt also überhaupt nicht in Frage. Wir haben alles über Bord geworfen, was wir nicht unbedingt bis Korsika brauchen. Der Bootsmann ändert den Treibanker so ab, dass ein Schöpfeimer entsteht; das Oesfass und der Eimer werden ebenfalls bemannt. Sobald das Wasser im Boot zu hoch steigt, lenzen wir damit möglichst rasch! Dann hebt er den Arm hoch und zeigt eine braune Brieftasche, sie sei im Wasser getrieben. Ich greife unwillkürlich an meinen Hosenbund: meine Brieftasche fehlt! Er guckt hinein, sieht meine Immatrikulationskarte vom Konsulat in Lissabon. Ich erhalte meine Brieftasche, sehe auch nach und finde einige Fotos von Carmen und die Heuerabrechnung vom August, alles feucht und zusammengeklebt. Man darf sich von dieser Zusammenfassung nicht irreführen lassen. Erstens kam der "Lagebericht" nicht so fliessend und zudem wurde Baardwijk dauernd von irgend einem der Portugiesen unterbrochen, der jammernd irgendeine saudumme Frage stellte. Dann endlich kommt das "Together, heave ho!". Der Kapitän drückt den Tiller zur Seite und wir nehmen Kurs auf Korsika. Der Kompasskurs müsste etwa NE bei E sein. Nachts wird der Kurs mit Sternen gehalten und von Zeit zu Zeit mittels Streichhölzern mit dem Kompass verglichen. Der Kompass hat zwar ein Oellämpchen, aber es ist kein Oel im Reservoir und das Reserve-Oelkännchen finden sie in der Dunkelheit nicht! Man müsste alle wasserdicht verschlossenen Duchtkanister aufmachen, in der Dunkelheit alles herausnehmen und wohin damit im Boot mit überspülten Floorboards? Auf korrekt gewarteten Rettungsbooten gibt es dafür Inventarlisten mit den Standorten! Wir kommen gut vorwärts, trotz dem ewigen Lamentieren und Beten der nicht-rudernden Portugiesen und lösen jeweils alle 20 bis 30 Minuten ab, wenn ohnehin gelenzt werden muss. Etwas muss man den Portugiesen allerdings zu Gute halten: sobald sie mit rudern beschäftigt sind, machen sie ganze Arbeit! Da zeigt sich wahrscheinlich die Uebung mit den Dories auf den Virgin Banks. So ab 20 Uhr ist mir trotz der Oelschicht kalt. Ich rudere um warm zu bleiben und halte das durch bis zum nächsten Morgen, als die Sonne aufgeht, also rund 8 Stunden. Die linke Schulter ist dick geschwollen, aber wir sind ganz nahe bei Korsika. Wir müssen etwas über 2 Knoten (rund 4 km/h) gerudert haben. Damit sind wir zwar keine punische Monoreme, aber die haben dafür des Nachts nicht gefahren! Der Kapitän will jedem etwas Nahrung geben und öffnet eine Büchse Kondensmilch aus dem Bootsvorrat: ungeniessbar! Andere Büchsen dasselbe. Das Wasser schmeckt faul. Alles reiht sich bestens mit dem fehlenden Oel im Kompasslicht. Damit gehört der 2. Deckoffizier eigentlich ausgepeitscht oder gekielholt oder was weiss ich, denn er ist im Zwei-Wach-System für die Rettungsboote verantwortlich! Aber einmal ein Drecksack, immer ein nutzloser Drecksack, so ist das eben. Tiburcio Alvaro da Silva der Teufel soll dich holen, und das nicht zum letzten Mal! Ich bin erschöpft, habe Schmerzen und bin vor allem stink-wütend. Hinter meinem Rücken, im Bug, lamentiert schon wieder ein Portugiese und ruft seiner Maria und dem Jesus. Ich drehe mich um und brülle ihn an, auf scheizerdeutsch, er soll seine verdammte Schnurre halten. Alle gucken verdutzt und der Chief-Eng. ruft mir zu, ich solle mein Maul halten, es sei nicht an mir mich so zu äussern. Sie haben zwar alle (ausser Häggi und Städeli) nichts verstanden, aber dem Ton nach haben sie alle gemerkt was ich meinte. Ich war masslos enttäuscht und einer grossen Illusion beraubt: Der Kapitän verhielt sich berhaupt nicht so, wie ich mir einen Kapitän in einer Notsituation vorgestellt hatte. Wo waren jetzt die grossen Sprüche von den untauglichen Schweizern und den fliegenden Holländern? Und jetzt noch diese Zurechtweisung vom Chief-Eng. der sich bisher wie ein Chef benommen hatte. Später erfahre ich, dass er es zu meinem Schutz getan hat; Meine Unbedarftheit gegenüber den Portugiesen war grenzenlos, doch davon später. Ein Motorboot kommt aus einer schönen Bucht mit einem grossen Kastell und schleppt uns ab. Es sind Italiener; die ca. 40 mm Flak auf dem Molenkopf nimmt uns auf's Korn und traversiert. Glauben die wohl, wir wären eine verkappte Kommando-Einheit? Wenn sie das Theater seit der Torpedierung mitgemacht hätten, würden sie sich direkt blöd vorkommen! Wir sind in Calvi, werden auf Camions verladen und ins Lazarett gebracht. Das Lazarett ist in einem Hotel (ich glaube es hiess "Alexander"). Ein Sanitäts-Uoff. mustert uns, teilt uns Betten zu und nimmt dem Deckpersonal die feststehenden Messer ab. Früher war das wahrscheinlich der Speisesaal, aber jetzt steht ein Hotelbett neben dem andern. Ich ziehe meine noch feuchten und nach Kopraöl stinkenden Hosen und Unterhosen sowie die nassen Schuhe aus, krieche geölt unter das Leintuch und bin gleich weg. Ich schlafe etwa 10 Stunden. Auf meinem Nachttisch steht eine Büchse Kondensmilch. Häggi liegt links von mir und grinst "Guten Abend". Rechts schläft Hofmann auf dem Bauch. An einem Tisch sitzen der Kapitän und der Chief-Eng. Baardwijk sagt: "Der Arzt hat alle begutachtet und Dir eine Büchse Kondensmilch verschrieben. Aber Du hast geschlafen und als Holländer kann ich keinen Kaffee ohne Milch trinken, die Büchse ist jetzt leer." Wie war das doch: Geführt wird vorn und durch das gute Beispiel! Ha, Ha, Ha! Die ganze Besatzung war schon zum Duschen im Keller, hat fehlende Kleidung aus italienischen Miltärbeständen ergänzt bekommen und wurde in den Hafen ausquartiert. Ein Sanitäter merkt, dass ich wach bin, gibt mir Seife und ein Handtuch und schickt mich zum Duschen. Er hilft mir, indem er die Schulterwunde mit Gaze belegt und ein Stück Gummituch darüber hält. Dann bekomme ich ein frisches Nachthemd und muss mit ihm gehen. Wir steigen in den 2. Stock und da werde ich ohnmächtig. Auf einem Schragen wache ich auf, der Sanitäter verabreicht mir Ohrfeigen. Dann kommt ein Arzt und fragt auf französisch, was mir so fehle. Ich zeige auf die Schulter und den Knöchel, er nickt und will wissen, was sonst noch. Ich schüttle den Kopf. Da reicht der Sanitäter eine Schale mit Pincetten und ähnlichem Werkzeug. Der Arzt stochert in der Schulter herum. Es tut, gelinde gesagt, saumässig weh. Dann klappert es in der Schale, anscheinend hat er etwas herausgezogen, eine schwarze Salbe wird draufgeschmiert und verbunden. Der junge Arzt bedeutet mir, er habe wahrscheinlich nicht alles heraus bekommen, aber er könne mich im Moment nicht weiter quälen. Man werde sehen. Im Knöchel ist eine tiefe Rille, sie wird gereinigt, es brennt höllisch; dann wird sie mit schwarzer Salbe bestrichen. Verband. Aufstehen, runter in's Bett. Ich bin froh liegen zu dürfen! Aber schon kommt der Arzt mit einer Spritze, intravenös, und sobald er auf den Stempel drückt, glaube ich den Mund voller Mottenkugeln zu haben. Zaghaft frage ich: "Kampher?" Er lächelt und nickt. Wozu das gut sein soll weiss ich zwar nicht, aber es ist nicht die Zeit, Handlungen eines Arztes zu hinterfragen. Er ist der Fachmann, man ist dankbar für alles, Ende der Durchsage. Zum Nachtessen gibt es eine Handvoll Rosinen und ein Stück Brot. Zum Frühstück ein Stück Brot für den ganzen Tag und eine grosse Tasse schwarze Brühe, anscheinend Kaffee. Zum Mittagessen die gleiche Tasse voller Minestrone und Trauben oder eine Orange. Zum Nachtessen eine Handvoll Rosinen. Und so weiter, jeden Tag, aber auch für die Italiener! Wasser trinken kann man soviel man will, das WC ist im Keller. Ich habe grosse Mühe mit dem Knöchel und schleiche ganz vorsichtig und möglichst wenig auf's WC. Die Matratze ist voller Wanzen. Ich unternehme einen Feldzug gegen sie, indem ich sie in ihren Verstecken zerquetsche. Wir haben alle Hunger, Häggi und ich reden nur noch vom Essen. Er war schliesslich vorher Koch auf der französischen Botschaft in Lissabon, hat Diners und Buffets für grosse Festivitäten gemacht und unter anderem auch für Darlan gekocht. Ich lerne allerlei nützliches, wie z. B., dass nicht Fisch oder Fleisch entscheidend sei für Weiss- oder Rotwein, sondern mit was die Sauce angemacht wurde. Wir versprechen uns, dass wir, sobald wir in Lissabon sind, zusammen essen gehen und all das echt ausprobieren, was er mir jetzt beibringt. Der junge Arzt kommt und erläutert Häggi in einem Gemisch aus französisch und italienisch (mit dem sie sich aber jeweils gegenseitig bestens unterhalten), dass Hofmann und Häggi eigentlich in's Spital nach Corte müssten, denn hier seien keine Betäubungsmittel und auch keine Sulfanomide mehr verfügbar, der Frontverlauf lasse das aber im Moment noch nicht zu. Hofmann müsste allerdings dringend versorgt werden. Am 07.09.1943 hätten alle italienischen Truppen den Befehl erhalten, alle Angriffsoperationen abzubrechen. Am 08.09.43 sei mitgeteilt worden, dass Badoglio mit den Allierten einen sofortigen Waffenstillstand vereinbart hätte. Alle italienischen Truppen hätten sich gegenüber den Deutschen und den Allierten neutral zu verhalten. In Italien hätten die Deutschen natürlich sofort alle wichtigen Punkte besetzt und ein Teil der italienischen Truppen habe sich loyal mit dem Duce erklärt. Hier in Korsika sei die Lage realtiv einfach: die Deutschen seien nie zahlreich gewesen, d. h. hauptsächlich Spezialisten, wie z. B. Meteorologen, mit etwas infanteristischem Schutz. Alle aus dem Norden hätten sich schon auf Bastia zurückgezogen, die aus dem Süden würden sich auf einer Achse Ajaccio - Corte zurückziehen, mit dem Ziel Bastia. Somit bleibe die Westküste (und damit Calvi) von Kämpfen verschont, aber Verwundete würden natürlich auch hierher gebracht. Häggi übersetzt das für Hofmann (aber nur teilweise!). Sie ziehen Hofmann ein Gummituch unter und machen seine Knöchel mit Textilstreifen an der Bettstatt fest. An jeder Seite des Bettes ist ein Arzt tätig. Bei jedem Arzt ein Sanitäter, der Besteck und Verbandstoff reicht. Ein dritter Sanitäter steht am Fussende, zündet eine Zigarette an und raucht sie vorsichtig. Von Zeit zu Zeit dreht ein Arzt den Kopf, der Sanitäter hält die Zigarette hin und der Arzt nimmt einen tiefen Zug. Wahrscheinlich können sie sich gar nicht anders wach halten, das Lazarett füllt sich immer mehr. Jetzt haben wir auch zwei deutsche und zwei französische Soldaten, wovon der eine ein fast schwarzer Araber. Der eine Deutsche stirbt bald, er hatte von einem Maquisarden Schüsse aus einer MP in den Bauch erhalten, als er am Boden lag! Die Franzosen mögen die Maquis-Kerle übrigens auch nicht! Mit dem anderen Deutschen singen Häggi und ich "Erika". Die Italiener und die Franzosen finden es toll und wollen noch mehr solche Lieder hören! Frontschweine unter sich, kein sozialistischer Schreiberling weit und breit, wie einfach kann das Leben sein! Am 28.09.1943 muss jeder der kriechen kann sein Bett räumen. Häggi und Hofmann bleiben zurück, sollen aber in ein, zwei Tagen nach Corte verlegt werden. Auch ich erhalte, wie schon vorher die anderen Besatzungsmitglieder, italienische Militärschuhe, Socken, Unterhose, Hose, Wadenbinden, Hemd und eine Art Feldjacke. Der junge Arzt kommt, verabschiedet mich und gibt mir meinen Gurt und das Messer. Ich habe das Gefühl, dass es ihm leid tut, dass wir gehen müssen. Dann werde ich mit ein paar anderen Verwundeten zum Bahnhof gefahren. Die Besatzung ist schon in eine Art Spielzeug-Zug eingestiegen; Ich geselle mich zu Städeli, Hansen und Mortensen. Jedes Abteil hat eine eigene Türe nach draussen! Das Gehen macht mir grosse Mühe mit dem Knöchel in den hohen Militärschuhen, aber kriechen kann ich schliesslich. Der kleine Zug rattert gemächlich über Corte nach Ajaccio, von morgens früh bis abends spät. Wir essen Rosinen, Brot und Früchte aus dem Lazarett. Es ist dunkel, als wir in Ajaccio ankommen. Wir werden auf einen gedeckten Camion verladen, ich sitze zu hinterst bei der Klappe. Wir fahren unter einem Steinbogen durch und im Lichte der nur kurz eingeschalteten Scheinwerfer sehe ich die Aufschrift "Sant‚". "Wir kommen wieder in ein Lazarett!" gebe ich laut bekannt. Man sollte besser französisch können. Dann runter vom Camion, vier Mann in Khaki mit Maschinenpistolen lassen uns in Zweierkolonne antreten. Zwei bleiben als Bewachung, zwei gehen mit je vier von uns in ein Haus, einer reisst in einem Gang eine schwere Türe auf, der andere schiebt uns in den Raum, die Türe knallt zu, ein Riegel geht vor. Es ist stockfinster, wir tasten uns zu einer Holzpritsche vor, die die ganze Raumbreite einnimmt und legen uns hin. Wir haben knapp Platz nebeneinander. Ich bin mit dem Bootsmann, dem 2. Eng. und dem Funker zusammen. Die beiden „ussersten können nur auf der Seite liegen, weil die Wand zu kalt ist. Wir wechseln ab. Früh morgens fällt Licht durch ein kleines vergittertes Fenster über unseren Köpfen. Wir poltern an die Türe, dringend pissen! Zwei Khakigestalten kommen, öffnen, richten die MP's auf den Türspalt und sagen: "Un aprŠs l'autre!" Dann sagt der eine zum anderen: "D gehsch, ich wart!" Ich gebe mir die grösste Mühe, mein Zürichdeutsch abzufälschen und einen möglichst elsässischen Tonfall hinein zu bringen: "Awer ich kann bald nemmer warte!" Grosses Hallo, beide sind von Mulhouse, (einer ist übrigens der Sohn von einem grossen Möbelgeschäft). Ich erkläre den beiden wer und was wir sind. Einer geht zum Kommandanten. Der hatte schon Besuch vom Konsularagenten. Unsere Türen bleiben offen, wir werden von den übrigen Kriegsgefangenen ferngehalten, die sind im hinteren Teil des grossen Kasernenhofes. Einzeln beim Cmdt antreten; der Belgier Schools übersetzt und wir erhalten jeder ein Papier mit unserem Namen und der Unterschrift von Cmdt. Silvani. Wir müssen nämlich zum Spital in Ajaccio um verbunden zu werden oder auf den Markt um Früchte zu kaufen (Geld vom Konsularagenten Ludwig in Ajaccio) und in unseren italienischen Uniformteilen ist das ohne ein solches Papier gefährlich. Städeli wird denn auch prompt von einer Maquis-Bande angehalten und mit seinem bedächtigen accent f‚d‚ral zuerst einmal an die Wand gestellt. Grosses Gefuchtel mit Sten's, als glücklicherweise ein Gendarme auftaucht und Städeli in letzter Minute rettet. Wir sind im Wach- und Gefängnishaus der Caserne de la Garde mobile untergebracht. Die Grenze zwischen dem vorderen (unserem) Teil des Kasernenhofes und dem hinteren Teil, wird durch einen Sodbrunnen gebildet, der fürchterlich stinkt. Direkt daneben ist ein Hydrant, an welchem jedermann zwischen 10 und 11 Uhr morgens Wasser holen kann. Ausserhalb dieser Zeiten ist der Hydrant geschlossen. Gegenüber vom Wachgebäude liegt die Kommandantur. Zwischen der Kommandantur und dem Sodbrunnen ist uns ein Platz für eine Feuerstelle zugeteilt. Wir tragen ein paar Backsteine von einem zerstörten Haus dahin und bauen eine Feuerstelle. Einer der Elsässer zeigt uns neben der Kaserne einen riesigen Haufen Lattenkratten mit Weissblech-Caissons. Es sind aufgeschnittene Behälter für ca. 7,5 cm Granaten. Die Granaten werden in dieser Verpackung aus den USA verschifft, um sie trotz Seetransport und den unterschiedlichsten Witterungen am Einsatzort verschuss- resp. tempierbereit den Caissons entnehmen zu können. Mit den Crates machen wir Feuer, ein Caisson ist jeweils der Kochtopf. Mehrere Caissons dienen als Wasserbehälter. Zum Kochen gibt es Makkaroni und Linsen. Die Portugiesen mögen keine Makkaroni, also essen wir mittags und abends eine Portion Linsen. Aufpassen muss man allerdings, dass man früh ansteht. Die Weissblech-Caissons sind nämlich an den Kanten gelötet und das Lötzinn, das oberhalb des Flüssigkeitsspiegels liegt, rinnt als Tropfen in die Linsensuppe, erstarrt zu Kügelchen und wer im Caisson zu weit unten schöpfen muss, hat sie in seiner Gamelle. Der Begriff Gamelle ist etwas hochgestochen, es sind tatsächlich nur Konservenbüchsen. Dazu gibt es pro Mann eine Frucht vom Markt oder aber Kaktusfeigen. Das ganze Kasernenareal ist aussen von einem ca. 3 m breiten Feigenkaktus-Gürtel umgeben; der ist m. E. wesentlich wirkungsvoller als Stacheldraht! Die Elsässer halten mir Roquefort zu, tagsüber in der Zelle, wenn alle draussen sind. Der Roquefort ist allerdings sehr lebendig, man muss die Maden wegkratzen. Ich biete meinen Zellenkameraden davon an, aber die wenden sich disgusted ab. Nun, wer nicht will hat eben keinen Hunger. Eines Nachts wachen wir auf: Flugmotoren! Wir versuchen aus unserem Fensterchen etwas auszumachen. Wir gucken zwar Richtung Hafen, aber die Kommandantur gegenüber lässt keinen direkten Blick zu. Plötzlich Scheinwerfer und schwere Flak schiesst Schnellfeuer. Wir haben bislang keine Flakstellungen gesehen, also müssen Kriegsschiffe im Hafen liegen, denen man praktischerweise die Luftverteidigung zugeteilt hat. Es ist ein unheimliches Gefühl, in einem Gefängnis (obwohl unsere Türe offen steht!) einen Luftangriff zu erleben! In keinem Bericht wird wiedergegeben, was eigentlich zu unserem Abtransport nach Algier geführt hat; das waren nämlich weder die Bemühungen des Konsular-Agenten noch die des Kapitäns, sondern ganz einfach der Besuch eines franz. Generals! Am 06.10.1943 im Laufe des Vormittags brüllen plötzlich die Wachen herum und scheuchen uns, die Italiener (wieso diese immer noch kriegsgefangen sind wundert mich längst) und die Deutschen auf den Kasernenhof. Alles auf ein Glied, ausrichten. Wir geben die lausigste Vorstellung, Steinegger vom Schulschiff hätte einen Herzinfarkt bekommen. Drei Jeeps brausen durch das Tor, Major Silvani grüsst eine ganze Anzahl von Offizieren. Ein kleinerer Mann scheint der Boss zu sein, Silvani berichtet ihm und zeigt auf uns, wie auch auf die Deutschen und die Italiener weiter unten. Dann schreitet der Boss auf uns zu. Baardwijk wollte schon vorher, dass ich neben ihm stehe, Schools und Städeli sind nämlich auf Einkaufstour in Ajaccio. Der General fragt Baardwijk, wer wir seien. Anstatt auf englisch zu antworten, deutet der auf mich. Der General guckt mich an, nickt und ich lege los: "Rescapé‚ du bateau suisse MALOJA, torpillé‚ le 7 september au large de Calvi". Er winkt einem Offizier, gibt einen Befehl und nimmt unsere "Front" ab, scheint aber davon nicht sehr angetan. Freundlicherweise verkneift er es sich aber doch, zu fragen, ob wir nicht eher ein Haufen Pilger seien, als die Besatzung eines ehrenwert versenkten Schiffes. Dann verfügt er zu den Kriegsgefangenen weiter unten. Selbst in ihrem Lumpenaufzug und den Verwundeten, die sich kaum gerade halten können, machen die eine wesentlich bessere Figur als wir. Da wird es dann wieder heissen "Marine suisse, ca existe vraiement?" Der General kehrt zurück und der Offizier kommt aus der Kommandantur und meldet, man merkt es, bestätigend. Der General tritt auf Baardwijk zu und sagt (ich gebe es nach bester Erinnerung im Wortlaut wieder): "Mon adjudant me confirme, qu'Alger sait, qu'un bateau suisse a disparu. Je ne peu pas vous offrir un meilleur logis mais je peu ameliorer votre sustenace pour aussi longtemps que vous rester dans mon rayon de commandement. Je n'ai pas moyens de vous faire transporter … Alger. Autrement, si vous voulez plutot passer sous le commandement de la marine francaise, vous pourriez vous embarquer ce soir même, je ferai tout le necessaire! Mais sachez, que je ne sait pas ou le voyage vous amenera, n'y quel temps elle prendera. Capitaine, dites moi ce que vous desirer faire!" Ich übersetze in Windeseile. Baardwijk fragt die Besatzung, ob sie bei verbesserter Verpflegung hier bleiben oder heute Abend schon einschiffen will, allerdings mit unbekanntem Ziel? Die ganze Besatzung will deutlich "auf's Schiff!" Der General grinst, wahrscheinlich ist es ihm auch lieber so! Wieder erteilt er einen Befehl und der Adjutant verschwindet in der Kommandantur. Dann richtet er sich wieder an Baardwijk, aber doch so ein bisschen schräg, damit ich auch dazu gehöre und sagt (wiederum ohne Garantie für meine Grammatik) etwas, das mich praktisch sprachlos macht: "D‚s que vous êtes rentres en Suisse, vous diriez … tout-le-monde, que la France n'oubliera jamais ce que la Suisse a fait pour elle en quarante!" Ich nehme, obwohl das physisch gar nicht möglich ist, noch mehr Haltung an und sage laut und deutlich: "Oui, Monsieur!" Die französischen Offiziere lächeln verständnisvoll. Ich würde am liebsten versinken, aber so ist das nun mal, wenn man in der Sek im französisch nie aufgepasst hat, weil man englisch lernen wollte und dann das doch nicht durfte, weil der Notendurchschnitt Deutsch und Französisch zusammen ungenügend war. Dann rauscht die Kavalkade ab. Wir müssen einzeln zu Cmdt. Silvani. Ein Maréchal-de-logis schreibt jedem auf seinen "Personalausweis" das Wort "QUERCY". Um etwa 19 Uhr ist Besammlung und wir gehen als geschlossener Haufen mit Begleit durch den Mar‚chal-de-logis in den Hafen. Ein schicker knapp 5000 Tönner liegt am Quai, weiter weg sind noch zwei ähnliche Schiffe und ein Zerstörer. Wir gehen einzeln das Fallreep hoch. Oben sitzt ein Leutnant, sieht sich den "Personalausweis" an, stellt Fragen und trägt etwas in eine Liste ein. Neben ihm stehen ein oder zwei Uoff, welche die Leute wegbringen und gleich wieder zurück kommen. Ich bin einer der Letzten. "Nom et prénoms?" "Né ou?" "Date de naissance?" "Nationalité?" "Occupation et rang à bord?" Mein Rang scheint ihm nicht zu behagen, was macht man mit einem "Aspiranten"? Der kann ja nichts, sonst wäre er schliesslich nicht mehr Aspirant. Mein Geburtsort scheint ihn zu interessieren, "Zurich?" "Oui, mon lieutenant!" "Vous connaissez Oerlikon?" "Oui, mon lieutenant." Ich bin völlig platt, was das nun wieder soll. Dann sagt er lächelnd etwas zum Uoff. Der nimmt mich mit. Zuerst zeigt er mir in Raum 2 meine Hängematte, dann muss ich mit auf's Bootsdeck. An Backbord stehen zwei 20 mm Oerlikons, er fährt mich zum vorderen und stellt mich dem wachhabenden Geschützführer vor, als "un Suisse" und geht wieder. Der spricht mich gleich auf elsässisch an und erklärt mir, wie das an Bord so läuft. Die QUERCY ist ein Kühlschiff, transportierte hauptsächlich Bananen. Kühlschiffe sind schnelle Schiffe (ca. 16 Kn) und eignen sich besonders für Truppentransporte, weil die Räume durchwegs isoliert und weiss verkleidet sind. Weil sie aber Truppen transportieren, sind sie zusätzlich zu ihrer Schnelligkeit auch besonders bestückt und gelten als "Hilfskreuzer". Auf der QUERCY sind vor und achtern je zwei 10,5 cm Geschütze versetzt übereinander. Auf der achteren Saling ein 38 mm Hotchkiss, auf dem Bootsdeck vier 20 mm Oerlikons, an Deck bei den Masten noch einmal vier 20 mm Oerlikons und in jeder Brückennock ein 8 mm MG. Bei einem Angriff soll ich zum Geschütz kommen und an Deck hinter die Panzerung liegen, da sei ich gut geschützt. Falls nötig müsste ich dann Tambouren beim Vormast holen. Mit Tambouren meint er die Kübel-Magazine der Oerlikon. Er werde es dem Chef der Marine-Infanterie sagen, sonst würden die mich bei einem Angriff nicht an Deck lassen und mit den anderen im Raum 2 einschliessen. Ich bin begeistert und danke in Gedanken auch dem Lieutenant und der Marine-Infanterie, wenn ich bei einem Angriff nur nicht mit diesem Haufen portugiesischer Klageweiber im Raum 2 eingesperrt sein muss. Das Deckpersonal hat der Leutnant dem Bootsmann zur Verfügung gestellt; die sind schon am spleissen! Die Portugiesen erzählen nachher, der französische Bootsmann sei ein armer Hund, das ganze Schiff sei voller Artilleristen, Signalgasten und ähnlich nutzlosen Besatzungsmitgliedern, aber praktisch keinen Berufs-Matrosen. Er hätte viel defektes stehendes und laufendes Gut, aber sie würden es bis Algier in Ordnung bringen. Wir laufen nachts aus. Plötzlich rumst es gewaltig, das ganze Schiff bebt und zittert, die Portugiesen ebenso, das Schiff hat aber den Vorteil, dass es nicht schreit. Es ist nichts besonderes, die Geschütze werden auf Einsatztauglichkeit geprüft. Am Morgen an Deck, klares Wetter, wir sind ein Konvoi mit zwei etwa gleich grossen norwegischen Kühlschiffen, die auch ähnlich ausgerüstet sind. Um uns herum zieht ein Zerstörer seine Kreise. Ein schönes Schiff, der Geschützführer behauptet, es sei die FANTASQUE oder die TERRIBLE. Die sind sogar mir Laien ein Begriff, weil sie kurz vor dem Krieg, nach Ansicht der "Royale" (wie die französische Marine im Fachjargon heisst), eine Art Schnelligkeits-Wettbewerb (mit etwa 38 Kn) gewonnen hatten und in den Illustrierten waren. Da Kühlschiffe schnelle Schiffe sind, läuft der Konvoi Zick-Zack mit etwa 16 Kn! (Erfahrene Seeleute können das am vorbeirauschenden Bugwasser abschätzen). Das ist sehr beruhigend, denn ein U-Boot müsste geradezu Schwein haben, um bei dieser Geschwindigkeit und Fahrweise Torpedos zu plazieren. Problematisch ist auf diesen Handelsschiffen die Unterbringung der zusätzlichen Besatzungsmitglieder (Artilleristen, Signalgasten usw). Auf QUERCY ist das WC-Problem sehr praktisch gelöst: Im Vorkasteel sind zwei Stahlträger nebeneinander angebracht, in der Länge etwa alle 50 cm eine Armlehne aus Stahlrohr. Ueber den Trägern einige Stahlrohre als Fussgräting. Vor jedem Wachwechsel sitzen die Leute wie die Spatzen nebeneinander und mit dem Rücken zueinander. Eine Windhuze sorgt für den unerlässlichen Luftstrom, die Türe zum Deck ist immer offen. Die Deckwaschpumpe spült die Träger dauernd. Es ist nichts für Leute, die Geselligkeit nicht mögen. Am 08.10.43 um 2130 sind wir vor Algier auf der Reede. Am 09.10. werden wir von der Sécurité militaire einzeln verhört, es werden Protokolle angefertigt. Um 1630 dürfen wir an Land und gehen in's Hotel Mustapha in der rue de Balzac. Es ist schlicht und einfach ein Stundenhotel, aber was soll's. Jeweils vier Mann bekommen ein Zimmer mit einem riesigen französischen Bett. Ich bin, wie in Ajaccio im Gefängnis, wieder mit den Dänen Jens Hansen und Rikart Mortensen sowie mit Emil Städeli zusammen. Die Matratze legen wir nachts auf den Boden. Zwei dürfen auf die Matratze, die anderen zwei schlafen im Bett. Die auf dem Bett haben am Morgen die ganze Drahtmatratze auf der Haut abgebildet, deshalb wechseln wir täglich. Auf jedem Stock sind zwei Zimmer für je vier Mann, das dritte in der Mitte dient weiterhin dem hergebrachten Zweck. Zum Waschen gibt es in jedem Zimmer eine Waschschüssel, einen Krug und ein Bidet. Wir waschen uns alle vier in der Waschschüssel, einer nach dem anderen. Den Einbezug des Bidets als Waschschüssel bringen wir nicht fertig. Jeden Morgen ändert die Reihenfolge, der erste muss mit dem Krug im Parterre warmes Wasser holen. Mehr als einen Krug pro Zimmer gibt es nicht. Zusätzlich aber gibt es einmal pro Woche und Mann einen vollen Krug warmes Wasser für das Bad. Duschen gibt es keine (die waren damals ohnehin noch nicht sehr verbreitet). Am 11.10.43 erhalten wir Zivilkleider vom US-Roten Kreuz und einige Toilettenartikel. Das Handtuch war ein Stück Leintuch und musste schon nach dem Gesicht-abtrocknen zum ersten Mal ausgewrungen werden. Im Bericht des Konsulats heisst es übrigens sehr schön: "...bei Ankunft in Algier waren alle sehr ärmlich mit italienischen Uniformstücken bekleidet." Nach den Erkenntnissen von 1998 würde ich mich nicht wundern, wenn ein italienischer Winkeladvokat die Lektion aus Amerika gelernt hätte und eine Sammelklage wegen Beleidigung der glorreichen italienischen Armee einreichen würde; schliesslich waren die alle so gekleidet! Ich erhalte eine graue Hose, ein graues Sweatshirt und ein dunkelgrünes Jacket mit drei Taschen und einem Schlitz hinten. Die eine der drei Taschen ist klein, vorne, etwas erhöht und hat, wie die zwei anderen, einen Flap. Die Dänen spielen erlauchte Gesellschaft: "Gehen der Herr noch zum Pferderennen? Oh, wie praktisch, ein extra-Täschchen für die Wettscheine!" Wir liegen quer auf dem Riesen-Bett und lachen uns halbtot. Die entsprechenden italienischen Uniformteile werden übrigens eingezogen, Hemd, Schuhe und Socken darf ich behalten. Als Ersatz für die Unterhose erhalte ich ich eine von diesen Unterhosen aus den Wild-Westfilmen, alles an einem Stück, mit einem geknöpften Flap hinten. Wie die damit reiten können, ohne sich den Arsch wund zu scheuern ist mir seither ein Rätsel. Die Verpflegung findet in der Kantine des US-Roten Kreuzes statt, die für alle US-Soldaten offen ist. Dort lerne ich einen Howard Curtis kennen, der Primarschullehrer ist und mir englisch beibringt, indem ich Taschenbücher lesen und ihm dann erklären muss, um was es geht. Am Anfang werde ich fast wahnsinnig, aber die Methode hat Methode. Irgendwann müssen wir zur Sécurité militaire. Die haben zwischenzeitlich die persönlichen Protokolle von der Einreise miteinander verglichen und nehmen sich nun diejenigen, die sich widersprechen, gemeinsam vor. Ich kriege einen Riesenkrach mit Tiburcio, dem 2. Steuermann, weil der stinkfrech behauptet hat, es seien deutsche Flugzeuge gewesen. Die Kerle von der Sécurité sind Fachleute, sie provozieren uns, aber ich Anfänger merke das natürlich nicht. Ich bin fuchsteufelswild, weil wir doch im Rettungsboot klar festhielten "unbekannt". Ich habe keine Lust mit den Deutschen in den Clinch zu kommen, wenn ich das nächste Mal nach Marseille oder Genua fahre, denn solche Aussagen werden natürlich von den Schweizern wegen der Entschädigungsfrage umgehend den Deutschen vorgehalten werden. Ich gebe zu Protokoll, dass die uns angreifenden Flugzeuge anders ausgesehen hätten als die drei Deutschen bei Kap Sao Vicente und dass ich in der Zwischenzeit gelernt hätte, dass die Focke-Wulf 200 im Mittelmeer gar nicht eingesetzt würde. Wo ich das gehört hätte? Auf QUERCY. Von wem? Natürlich vom Geschützführer, aber so dumm bin ich nun nicht mehr, dass ich ihnen das sage und den Elsässer möglicherweise in Unannehmlichkeiten bringe. Ich weiss es nicht mehr, einfach so im Gespräch. Sie lassen es dabei bewenden, aber Tiburcio, der Blödmann, steht nicht gerade im besten Licht da, er schäumt vor Wut. Allerdings ist er nicht der Einzige, der diesen Quatsch erzählt, auch der Kapitän gehört zu denen! Protokoll über die Einvernahme von Kapt. A.J. van Baardwijk am 11.10.43 in Algier durch den schweiz. Konsul J. Arber; Seite 3, 6.Abs.: "Dringend nach der Nationalität der angreifenden Flugzeuge gefragt, die die MALOJA torpediert haben, versichert der Kapitän, auf Ehrenwort, dass es ihm nicht möglich war, die Nationalität dieser Flugzeuge mit Sicherheit zu bestimmen. Er fügt bei, dass anzunehmen ist, es handle sich um deutsche Flugzeuge, aber er kann es nicht bestätigen." Das ist Opportunismus in Potenz! Die Leute von der Sécurité militaire grinsen wohl innerlich, denn sie wissen wahrscheinlich längst, nicht nur welche Flugzeuge es waren, sondern auch noch zu welchem Geschwader sie gehörten! Im Buch von Grivat und Grezet "Schweizer Schiffe auf allen Weltmeeren" (1986) las ich zum ersten Mal, dass uns RAF-Beaufighters versenkt hätten. Da dieses Buch viele Ungenauigkeiten und Fehler betr. den Fall MALOJA enthält, habe ich mich bei der Eidg. Militärbibliothek um Fachliteratur bemüht. Man müsste von der besatzungsseitig (auch von mir!) stets vertretenen gemischten Formation aus zwei- und viermotorigen wegkommen, denn die Beaufighters waren nur zweimotorig. Die gemischte Formation ist ohnehin eine Aussage, die von den Fachleuten stets bezweifelt wurde. Wenn aber alle Flugzeuge nur zweimotorig gewesen wären, würde das ein Problem lösen, das mir immer sauer aufgestossen ist, für das ich aber keine Lösung hatte: Der Beschuss war ausserordentlich dicht und wirkungsvoll und von viermotorigen Bombern mit ihrer schwachen Bugbewaffnung kaum zu erzielen. Der Beaufighter aber, mit vier 20 mm Hispano's und vier 8 mm MG's erreichte eine Kadenz von 9600 Schuss pro Minute, das wären auch bei Feuerstössen von nur je 2 Sekunden Dauer immerhin 320 Schuss pro Flugzeug. Dann wäre auch das Geschoss im Rettungsboot erklärt, denn ein 2nd Eng. konnte (damals) keinesfalls ein Kaliber von 20 mm mit einem solchen von knapp 13 mm (Cal. .50 Browning) verwechseln. Der Beaufighter war zwar ein britisches Flugzeug (und möglicherweise das beste Torpedoflugzeug des 2. Weltkriegs), aber es gab zu jener Zeit im Mittelmeer auch ein amerikanisches Geschwader mit Beaufighters, sodass für mich, ohne weitere Unterlagen, noch nicht feststeht, ob es Flugzeuge der RAF oder der US-Airforce waren. Aufgrund des falschen taktischen Vorgehens (Angriff gegen die Sonne) und der ungenügenden Zielabklärung (einzelnes, altes Dampfschiff weitab von der Küste, keine Bewaffnung erkennbar, Markierungen auf der Schattenseite nicht erkennbar) neige ich allerdings mehr zur US-Airforce. Falls die Bemerkung im Buch von Grivat und Grezet korrekt ist, muss man sich zudem fragen, was der Einsatzbericht einer britischen Einheit in einem amerikanischen Archiv zu suchen hätte. Ganz korrekt ist der Vermerk von Grivat/Grezet ohnehin nicht: ich war der einzige Off-Asp, der je auf MALOJA Dienst tat und ich habe bestimmt nicht in amerikanischen Archiven gestöbert. Das Essen in der Kantine ist sehr eintönig, es besteht ausschliesslich aus Sandwiches. Zwar alle Arten von Sandwiches und stets frisch, aber eben doch kein richtiges Essen. Gelegentlich gehen daher Städeli und ich mit einem Schweizer ex-Legionär, der beim US-Roten Kreuz arbeitet (er kann neben deutsch, französisch und englisch auch sehr gut arabisch) und uns schon unsere Zivil-Klamotten ausgegeben hat, in der Araber-Altstadt Couscous essen. Ich kriege eine Gelbsucht (sicher nicht vom Couscous), die aber bald wieder vorbei geht. Wir müssen alle zu einem Schweizer, der an einer Hauptstrasse einen Fotoladen hat. Von diesen Passbildern ist noch eines vorhanden. Ich mit dem italienischen grünen Hemd und dem amerikanischen grauen Sweatshirt. Very smart; mit der grünen Turf-Jacke wäre es allerdings noch viel bemerkenswerter. Curtis besorgt uns einen Schreibblock und ein paar Bleistifte und dann geht der Unterricht los mit Algebra und ebener Trigonometrie. Städeli ist ein geduldiger, guter Lehrer. Später, in Casablanca, als wir kein Papier mehr hatten, zeichnen wir im Park, auf einer Bank sitzend, die Uebungen mit einem Stecken in den Sand. Alles ohne Tabellen, nur mit angenäherten Werten, die er im Kopf hat oder auch graphisch ermittelt. Städeli meint, die alten Griechen hätten das auch so gemacht! Am 15.10.43 erhalte ich einen neuen Pass. Anstatt "Heimatschein vom" mit dem Vermerk "Selon rôle d'équipage du "Maloja" und unter "Bemerkungen": "Rescapé du S.S. "Maloja" torpillé". In der Geschichte der Eidgenossenschaft hat es nur drei solcher Pässe gegeben! Die erste Amtshandlung im Pass ist das portugiesische Einreisevisa vom 03.11.43 mit der handschriftlich vermerkten Genehmigung der PVDE (Fremdenpolizei) vom 21.10.43. Weil immer das Visum des Ziellandes zuerst vorliegen muss, folgt darauf das Ausreisevisum des "Gouvernement Général de l'Algerie" am 12.11.43. Interessant die "Autorisation du Comité Francais de la Libération Nationale"! Das nächste ist ein separates, nicht-datiertes "Laissez-passer" No. 1696, um das Militär-Gebiet Algier/Marokko bis zum 31.12.43über Casablanca-Hafen mit Destination Portugal verlassen zu können. Es ist ein interessantes Papier: eine Seite in französischer Sprache ist unterschrieben mit "Le Lieut.Col. Seroi, Directeur Adjoint de la Sécurité Militaire", gestempelt: "Commandement en Chef des Forces Francaises" und die andere in englischer Sprache ist unterschrieben von einem Untergebenen für einen "Colonel General Staff". Die Verlängerung bis zum 31.03.44 erfolgt in Casablanca durch "Capitaine Dumont, Chef du Bureau Central de Sécurité Militaire", während die "alliierte" Seite wesentlich einfacher gehalten ist. Am 15.11.43 steigen der Kapitän, der Steward Schools, alle Portugiesen und ich in einen Eisenbahnwagen 3. Klasse mit Holzbänken, vermummten Araberfrauen, schweigsamen Arabern, Kindern und Körben voller Hühner. Die drei Dänen und der Funker Städeli müssen zurückbleiben. Sie sollen auf Hofmann und Häggi warten und diese nach Casablanca begleiten. Es ist nämlich aufgrund fehlender Informationen aus Korsika nicht klar, ob die zwei gehfähig sein würden. Kriegszeiten sind Glanzzeiten für Bürokraten und Prestigejäger. Der Eintritt nach Marokko am 16.11.43 wird nicht nur im Pass gestempelt, es wird zusätzlich ein blaues "Bulletin Individuel d'Embarquement" erstellt. Vermutlich brauchen sie einfach alte Formulare auf (es trägt die gedruckte Jahrzahl 193..) und berechtigen damit ihre Existenz. Später will jedenfalls niemand mehr das Papierchen sehen! Vor Abschluss der Episode Algier möchte ich aber Herrn Generalkonsul Arber einen dicken Kranz winden: Ein Mann der Tat, der mit den hohen Offizieren und Funktionären verhandelte wie sich das gehört, mit seinesgleichen, nicht als Befehlsempfänger. Er erinnerte immer wieder an die guten Taten der Schweiz, an das Rote Kreuz usw. und das funktionierte, die direkt betroffenen Militärs anerkannten das als Tatsache! Was ist das heute, nach über 50 Jahren, für ein dummes Geschwätz von all diesen besserwissenden Möchte-gern-Historikern, fiesen US-Anwälten, mafiosen Senatoren und Finanz-Kontrolleuren und nicht zu vergessen, von dem miesen Pepsi-Cola und Schnapshändler, der es zum Präsidenten des WJC gebracht hat! In Oran aussteigen und beziehen der Nacht-Unterkunft in einem Keller auf Stroh. Am 16. in aller Herrgottsfrühe Tagwacht und besteigen eines Güterwagens ohne Bänke, wiederum in Begleitung ähnlicher Mitpassagiere wie gestern. Wir fahren über Oujda, Fes und Rabat nach Casablanca. Wasser trinken auf den wenigen Bahnhöfen, Essen so oft als möglich ein Spiesschen Merguez von fliegenden Händlern mit winzigen Grills. In Casablanca bringt uns ein Gendarme zum Centre de la Marine Marchande in der rue La Salle. Ich vermute, dass das Centre früher eine Markthalle war. Die grosse Halle ist vollgestopft mit eisernen Bettgestellen, je zwei nebeneinander und übereinander, also Vierer-Blocks, mit engen Gängen. An den Fussenden ist ein Röhrchen angeschraubt, die Wäsche-trocken-Anlage. Duschen gibt es keine, Badewannen auch nicht, lediglich halbrunde Stahltröge mit Kaltwasser, die mich verdächtig an die WC-Rinnen auf QUERCY erinnern. Vermutlich dieselbe Werft?! Wir essen in der Kantine der Marine Marchande beim Hafen. Das Essen ist zwar nicht reichlich, aber im Durchschnitt schmackhaft; da können die Amis und die Briten noch einiges dazu lernen. Nach wenigen Tagen verlassen der Kapitän, der Steward und alle Portugiesen verteilt auf portugiesische Kümos Casablanca und fahren nach Lissabon. Ich muss zurückbleiben, angeblich ist kein Platz mehr auf den Schiffen! Als grosser Naivling wundere ich mich nur, dass auf zwei Schiffen fünf Leute mitkönnen und auf einem nur noch vier, nehme aber die Sache als Gegeben zur Kenntnis. Dann muss ich zum Schweizer Konsul und erfahre, dass ich auf die aus Algier warten müsse. Nach ein paar Wochen treffen sie tatsächlich ein und kommen auch an die rue La Salle, aber nur die drei Dänen und Städeli; Häggi und Hofmann fehlen immer noch. Die seien zwar gehfähig in Algier eingetroffen, aber Häggi habe wegen Krätze in's Spital müssen. Da hätte man sie schon einmal vorausgeschickt. Anfang Januar 1944 treffen auch Häggi und Hofmann in Casablanca ein. Zwischenzeitlich ist im Viererblock nebenan ein Neger aus Dahomé eingezogen, der als Oiler fährt und auf ein Schiff wartet. Er war in Frankreich im Konservatorium, konnte aber nicht fertig studieren, weil die Deutschen kamen und er es auf ein nur ev. Verständnis der Besatzungmacht nicht ankommen lassen wollte. Seine Geige hat er dabei undübt täglich. Komischerweise hat er einige Notenblätter mit deutschen Texten oder Vermerken und ich übersetze so gut ich kann. Es ist alles Händel u. ä. ich verstehe nur Bahnhof und die Musik gefällt mir überhaupt nicht. Das sage ich ihm natürlich nicht. Am Eingang zur Halle steht eine kleine Sitzgruppe mit einem winzigen Tisch, da sitze ich nun und höre klassische Violinstücke. Gelegentlich übersetze ich etwas unbedeutendes, das der Geiger wissen möchte und fühle mich wahnsinnig kunst- und kulturbeflissen. Der Verwalter des Centre setzt sich manchmal auch dazu, sein kleines Büro ist gleich nebenan, aber der Kerl versteht noch weniger als ich. Zudem erscheint ihm verdächtig, dass ich anscheinend deutsch kann. Ich erkläre ihm, dass Schweizer und Elsässer das gleiche Deutsch reden würden. Da wird er böse, die Elsässer wären Franzosen und würden demzufolge kein Deutsch reden. Gut, er ist in Marokko geboren und zur Schule gegangen, aber ich vermute doch, dass die Lehrer denselben Stoff wie in Frankreich vermitteln. Aber der dickste Hund kommt noch. Auf dem Tischchen steht ein Radio mit einer riesenlangen Antenne unter dem Dach der Halle. Zufällig finde ich einmal BBC in deutscher Sprache. Der Neger will wissen, was die sagen und meint dann, es sei vermutlich sehr gefährlich im Deutschen Reich, das abzuhören. Dann muss ich plötzlich zum Verwalter. Der donnert mich zusammen, was mir einfallen würde, er hätte sofort verstanden, dass die Sendung in deutsch sei. La France sei besetzt, im Krieg, und es sei eine Schweinerei, in einem französischen Centre de la Marine marchande einen deutschen Sender zu hören. Ich erkläre, dass es sich um eine Sendung der BBC handle. Ob ich ihn für blöd halten würde? Wozu sollte BBC in der Sprache des Feindes senden? Vor dieser geballten Intelligenz kapituliere ich umgehend. Schon im Dezember begann das, was Walter Zürcher in seinem Buch "Die Schweizer Handelsschiffe 1939 bis 1945" (1992) sehr treffend wie folgt beschreibt: "Für die nun fünf zurückgebliebenen Seeleute beginnt ein recht eigentümliches Spiel. Täglich fragen der Schweizer Funker und Matrose Vogel auf dem Konsulat nach Neuigkeiten und besuchen fortwährend die portugiesische Schiffahrtsgesellschaft, die sie hätte abtransportieren sollen. Doch jedesmal werden sie vertröstet mit "faulen" Ausreden wie: kein Platz im Rettungsboot - keine Schwimmwesten - müssen Permission von Lissabon abwarten, usw.". Anfang Februar werde ich zum Konsul gerufen. Der eröffnet mir, dass der 2. Offizier eine Klage gegen mich eingereicht hätte, ich hätte die portugiesische Ehre beschmutzt und mich mehrmals negativ Portugal gegenüber geäussert. Der Konsul ist sehr aufgebracht, aber das wundert mich bei diesem eingebildeten, arroganten Affen überhaupt nicht. Falls ich nach Portugal wolle, müsse ich mich wörtlich vor ihm und schriftlich zu Handen des portugiesischen Konsuls entschuldigen. Er will nicht einmal wissen, was ich dazu zu sagen hätte! Da hätten Arber in Algier anders gehandelt! Abhauen auf ein alliertes Schiff wäre kein Problem (die würden mich mit Handkuss als O.S. nehmen), die spätere Schule in England oder in den USA auch nicht (Frankreich käme wegen fehlender Matur nicht in Frage), aber wie war die rechtliche Situation, ich war schliesslich immer noch für mehr als ein Jahr unter Lehrvertrag!? "Ja, gut, aber wenn ich das tue, kommen wir dann endlich weg?" "Das muss ich dann abklären, vielleicht!" Also gut, ich formuliere so gut ich kann eine tiefempfundene Entschuldigung, ich sei noch sehr jung und hätte allgemein eine grosse Schnauze. Aehnlich in schriftlicher Form, der Konsul wird es auf französisch übersetzen. Ich gehe zurück in's Centre und erzähle alles den versammelten "Malojisten". Der Chief-Eng. fasst zusammen (Wiedergabe aus der Erinnerung): 1. Der Entscheid von Arber, drei Dänen und einen Schweizer als Begleiter für Hofmann und Häggi in Algier zurück zu halten war, in Anbetracht der fehlenden Informationen aus Korsika, richtig. Ebenso richtig war, Vogel mit den anderen voraus zu schicken, weil bei den vier zurückgebliebenen Französisch-Kenntnisse vorhanden waren (Funker Städeli) und, wie sich zeigte, aus Casa gute Abfahrt-Möglichkeiten bestanden. 2. Als sich herausstellte, dass Hofmann und Häggi keine Begleiter brauchten, war es richtig, die vier sofort nach Casablanca in Marsch zu setzen. 3. Die Portugiesen haben ein ernstes Wirtschafts-Problem und eine grosse Arbeitslosigkeit. Sie versuchen jede Stelle mit Portugiesen zu besetzen, die aber gleichzeitig Salazar-treu sein müssen. Um dies zu überwachen gibt es auf jedem Schiff einen Vertrauensmann der PIDE (die Gestapo von Salazar). Auf MALOJA war dies Tiburcio, das wissen wir jetzt, haben es aber vorher schon vermutet. 4. Tiburcio hat seine Verbindungen genutzt, um uns alle in diese Situation zu bringen. Ich weiss jetzt, dass ich Vogel schon früher hätte warnen sollen, er ist völlig blauäugig in die Situation hineingerutscht, aber wie soll ein Chief-Eng. so etwas einem O.S. sagen? Ich habe aber schon in Lissabon dem Bootsmann bedeutet, er solle den jungen Schweizer vor den Machenschaften möglichst schützen; daher die Allein-Arbeit! Im Rettungsboot habe ich den an sich berechtigten Ausbruch von Vogel mit einem Verweis geahndet, aber es hat nicht viel genützt. Anscheinend gab es dann noch einen Zusammenstoss vor der Sécurité Militaire, aber da war keinem von uns ein Eingriff möglich. 5. Ich danke Vogel dafür, dass er die Entschuldigung fertig gebracht hat, es war sicher nicht einfach für ihn. Jetzt müssen wir aber handeln, denn auf den Schweizer Konsul hier ist kein Verlass. Anderseits ist kein Visa suspendiert worden, das offizielle Lissabon scheint nichts zu wissen. Möglicherweise konnte Tiburcio seine Gemeinheiten nicht über Casablanca hinaus ausdehnen. Was schlagt ihr vor? Wir beschliessen, dass sich die drei Dänen im Hafen herumtreiben sollen, um möglichst an Informationen zu kommen, auf welchen Schiffen (auch Allierten!) ein Wegkommen möglich wäre. Die Dänen sind dazu, als Kriegsopfer und patentierte, erfahrene Seeleute, am besten geeignet. Die drei Schweizer müssen den Druck auf den Konsul und die portugiesische Schiffahrtsagentur verstärken. Hofmann kann sich immer noch nur kurzzeitig auf den Beinen halten, soll aber auch im Hafen und den Kneipen versuchen, mit Holländern in Verbindung zu kommen. Dann erhalten wir auf dem Konsulat die Order, uns beim Hafenamt einzufinden. Von dort geht's zum "Office of the Surgeon" der Atlantic Base Section. Wir sollen mit einem allierten Schiff nach den USA und dort den neuen CICR-Dampfer "CARITAS II" übernehmen.(CICR hier: Comité International des Transports du Croix-Rouge). Hurra!! Das Health-Certificate müssen wir selber ausfüllen, das ist dem Sanitäter zu schwierig. Am 09.02.44 ist die "Untersuchung", ein Arzt ist nicht zu sehen, irgendein Sanitäts-Uoff guckt uns an, sagt: "OK" und unterschreibt den Zettel. Er sieht nicht, dass uns alle die Körperläuse plagen und mich zusätzlich die Krätze, obwohl ich schon eitrige Beulen zwischen den Fingern habe. Am 10.02.44 wäre einschiffen, aber kurz davor kommt die Order vom Konsulat "Hier bleiben". Es ist schon eine komplette Crew aus Lissabon nach Baltimore geschickt worden! Wir sind am Boden zerstört. Am Abend kommen der Chief-Eng. und der 2nd Eng. angesäuselt in's Centre. "Wisst ihr, dass man nach Lissabon fliegen kann?" Wir sind platt. Blödsinn, wie denn, im Krieg? Sie haben einen dänischen Maschinenoffizier getroffen, der in Lissabon in's Spital eingeliefert wurde und dann sein Schiff in Casablanca wieder erreicht hat. Mit dem Flugzeug! Am nächsten Morgen gehe ich mit Häggi die Flugagentur suchen. Es gibt sie! "Haben Sie ein Einreisevisum?" "Ja, unbefristet!" "Gut, wann wollen Sie fliegen? Holen Sie ihr Ticket morgen gegen Bargeld ab." "Halt, wir sind sieben Mann!" " Moment, dann ist die nächste Möglichkeit am 17.02.1944." So einfach ist das! Jetzt muss Geld her, das Konsulat wieder einmal geschlossen. Der Türsteher hat längst Mitleid mit uns, er deutet an, dass der Konsul drin sei. Wir treten fast die Tür ein, bis der Türsteher meint, wir sollten aufhören sonst lasse der Konsul noch die Polizei kommen. Er geht rein. Anscheinend nützt seine Vorsprache etwas, der Konsul empfängt uns gnädig, wie üblich von oben herab und macht Schwierigkeiten von wegen Geld. Aber jetzt rastet Häggi aus. Droht mit Anzeige bei der Gesandtschaft in Lissabon und beim Departement in Bern. Der Herr Konsul hätte nun genug Spielchen mit mir und allen getrieben, er sei kein Strafrichter sondern zur Hilfe an Landsleute verpflichtet. Er hätte in einer schwierigen Phase (durch die Kapitulation von Italien hervorgerufen) der schweizerischen Landesversorgung Schiffsbesatzungen vorenthalten, die dringend benötigt würden. Er hätte ohne entsprechende Vollmacht zeitliche Berufsverbote ausgesprochen und durch seine Kumpanei mit dem portugiesischen Konsul seine Pflicht der Schweiz gegenüber sträflich verletzt. Er hätte uns längst auf die Flug-Möglichkeit aufmerksam machen müssen und dass er es nicht getan habe, beweise seine von Lokal-Kolorit übertünchte, pflichtvergessene und niederträchtige Haltung. Ich kenne meinen Häggi nicht mehr, aber eben, die Ruhigen, wehe wenn sie losgelassen. Der Konsul wirkt klein und hässlich, seine übliche Arroganz ist weg. Er garantiert der portugiesischen Flugagentur die Bezahlung aller sieben Tickets und am 17.02.44 fliegen wir mit einer DC-2 (Kennzeichen CS-ADD) nach Lissabon. Die Fenster sind mit gelber Farbe zugestrichen. Die Steward serviert Drinks und sagt, wir sollten uns nicht fürchten, bei Gibraltar würde uns ein Jagdflugzeug umkreisen, das für den Schutz des Luftraums zuständig sei. Es ist ein unheimliches Gefühl, den Motorlärm der Spitfire oder Hurricane zu hören und nicht zu wissen, ob der Kerl auch wirklich die Safety auf dem Abzug hat! Die sanitarische Eintrittmusterung auf dem Fluplatz in Lissabon beschert mir umgehend einen Spitalaufenthalt. Die Eiterbeulen und Krätzebläschen werden mit harten Bürsten unter der Dusche aufgekratzt und eine höllisch brennende Lösung darüber gegossen. Der Schneider kommt in's Spital, misst mich auf, bringt die Kleider zur Anprobe und nach vierzehn Tagen bin ich wieder wie neu. Ich habe eine Marine-Offiziersuniform bestellt (nicht mehr diesen RAF-Verschnitt vom Schulschiff) mit dem Spaghetti-Aermel-Streifen des Aspiranten und eine hellgraue Flanell-Kluft, die eine etwas lange Jacke hat. Der Schneider schwört, das sei modern, aber im Café Suico nennen mich die andern Schweizer "Musiker". Aber die haben ja keine Ahnung von modernen Anzügen! Häggi und ich machen unser Gelöbnis wahr: Er geht mit mir in's Negresco und eine ganze Reihe weiterer bester Lokale, erklärt mir die Speisekarten und die Weine. Ich habe vieles wieder vergessen, aber von einzelnen Lektionen profitiere ich heute noch. Ich frage Häggi, ob er den Konsul anzeigen werde. Er winkt ab: wir haben unser Ziel erreicht! Es würde einen Stunk geben, aber schlussendlich wären wir doch die Dummen. "Glaubst Du, dass Bern einen Konsul blosstellen würde, bloss weil er seine Befugnisse gegenüber gewöhnlichen Besatzungsleuten überschritten und eine Machtdemonstration durchgezogen hat? Seine Freunde oder Kumpels haben längst Abwehrdispositive aufgebaut! Du bist wahrscheinlich schon als Bauernopfer markiert, das notwendig war, um die guten Beziehungen Schweiz/Portugal nicht zu gefährden! Gefährdet aufgrund Deiner grossen Schnauze, so werden sie sagen. Die wirklichen Vorkommnisse und die echten Verhältnisse will doch keine Sau wissen. Vergiss es und sieh Dir doch die Sache anders an: Du hast durch diesen Dreckskerl drei Monate berufliche Ausbildung an Bord verloren. Anderseits hast Du dafür Intensivkurse in französisch, englisch, Algebra und Trigonometrie absolviert, wie sie an Bord rein zeitlich gar nicht möglich wären. Das ist viel wichtiger als drei Monate Deckwaschen und Aufbauten streichen. Zudem hast Du viel im menschlichen Bereich gelernt, Du bist nicht mehr so unüberlegt aggressiv und die Fahrzeit zählt ja wegen der Torpedierung ohnehin bis Lissabon". Die Dänen und Städeli sind schon auf Schiffe eingeteilt worden, Häggi muss noch auf sein neues Schiff warten und ich warte auf ALBULA. Am 11.03.1944 ist es soweit: ich mustere auf ALBULA an. Das Rettungsboot hat die SRAG übrigens nach dem Krieg nach Basel übergeführt und im Garten des Schifferhauses (ex-Clavel-Gut) in Kleinhüningen aufgestellt. Es wurde in den 1960er Jahren total verrottet entsorgt. Und, bevor ich es vergesse, das Rufzeichen von MALOJA war HBDI. Ueber die schweiz. Hochseeschiffahrt im Krieg gibt es meines Wissens bis dato drei Bücher: Bachmann, Hans, R. "Schweizer Schiffahrt auf den Meeren" (1966). Grivat, Olivier und Grezet, Jean-Jacques "Schweizer Schiffe auf allen Weltmeeren" (1986). Zürcher, Walter "Die Schweizer Handelsschiffe 1939 - 1945" (1992). Die Episode der MALOJA wird in allen drei behandelt: Bachmann schreibt (siehe Seite 67): "Der Leichtmatrose Albert Vogel, dessen erste Seereise mit der Versenkung des Schiffes so rasch endete, schrieb damals einen Bericht über die Geschehnisse" und lässt über fünf Seiten einen Bericht in Anführungszeichen, also als Zitat, folgen. Dieser Bericht ist von mir bestimmt nicht damals geschrieben worden! Ich war vor Mitte der 1960er Jahre gar nicht in der Lage einen Bericht in derart gepflegtem Deutsch zu schreiben. Der Bericht ist somit geschönt. Zudem ist auf Seite 23 ein Fehler, der nicht von mir stammen kann: "An Backbord erscheinen kleine weisse Wasserpilze,...". Bis hierhin spielte sich alles an Steuerbord ab! Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht Vogel, der diesen Fehler einbrachte, abgesehen davon, dass alle vorliegenden Original-Berichte (Vogel und andere) klar von Steuerbord reden. Der Bericht ist übrigens nicht nur geschönt sondern auch gekürzt: die Rettung des 1. Decksoffizier S. Hofmann wird nicht erwähnt und andere Vorkommnisse sind ebenfalls nicht enthalten. Die Bücher von Bachmann und von Zürcher sind, abgesehen von solchen Details, sehr verlässlich und informativ. Das Buch von Grivat und Grezet anderseits ist, was die Zeit vor 1950 betrifft, fragwürdig. Der Autoren-Trick mit dem "alten Funker", der (scheinbar) alles weiss, ist nicht sehr originell, erlaubt zwar reisserische Darstellungen und Details, gibt diese aber oft unrichtig wieder. Die Episode MALOJA war hart und entbehrungsreich und war, nach ärztlicher Vermutung, der Grund für meine spätere Krankheit. Aber es war ein einmaliges Erlebnis, das mir die Bestätigung gab, in kritischen Situationen und selbst unter Feuer einen klaren Kopf behalten und logisch denken zu können. |